Sie sind hier : Startseite →  Hifi Historie und Geschichte→  Die Schallplatte (Historie)→  Historie der Schallplatte 1959→  Geschichte der Schallplatte 7

(15) JAZZ ME BLUES

»Machen Sie den Versuch!« sagt Jazzkritiker J. E. Berendt. »Unter zehn Jazzfreunden unterhalten sich neun über Schallplatten.« Eine Beschäftigung mit dem Jazz, so meint er, sei weitgehend eine Beschäftigung mit der Schallplatte.
»Nur an Hand von Schallplatten«, fügt Jazzkritiker Horst H. Lange hinzu, »kann man die Geschichte des Jazz studieren und verstehen.«

Die erste Jazz-Schallplatte der Welt . . . .

Die Jazzfans geben den beiden recht. Sie wissen, daß diese Musikgattung besser von Schallplatten als von Notenmanuskripten abzulesen ist. Wichtiger als die notierbaren Werte wie Melodie und Rhythmus sind beim Jazz die Improvisationen, die Tonbildung oder die Persönlichkeit der Musiker. »Jazz ist gefrorene Improvisation«, so heißt ein bekanntes Wort. Diese Improvisation aber ist Sache der ausübenden Musiker; sie wird allein auf der Schallplatte festgehalten, und deshalb gehören die Begriffe »Jazz« und »Schallplatte« eng zusammen.

Jazz-Collectors, Sammler von Jazz-Schallplatten also, richten ihr Augenmerk hauptsächlich auf originale Stücke. Sie sammeln mit System und Geschmack; sie wissen genau, was zum »Real Jazz« gehört, sie kennen die Besetzungen, die Aufnahmedaten und die Matrizennummern, sie katalogisieren und pflegen ihre Sammelstücke mit dem liebevollen und sachverständigen Eifer von Kunstkonservatoren.

Einen Großteil ihrer Platten betrachten sie als historische Dokumente. Moderne Nachspielungen sind weniger wertvoll für sie als die alten Schellack-Originale oder die sogenannten »Re-issues« - die Neuauflagen von früher erschienenen Originalplatten.

Ganz besonders stolz aber dürfen sie sein, wenn sie jene Platte besitzen, die am 26. Februar 1917 im New Yorker Victor-Studio aufgenommen wurde: »Livery Stable Blues« und »Dixie Jass-Band One Step«, gespielt von der Original Dixieland Jass Band.

Es ist die erste Jazz-Schallplatte der Welt!

1917 mitten im Krieg in New York

Was ist »Jass«, wo liegt »Dixieland«? - Mitten im kalten Januar 1917 ging es im New Yorker »Reisen-weber« -Restaurant so heiß zu wie noch nie. Die Gemüter, die sich am Vorabend des amerikanischen Kriegseintritts über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg der deutschen Marine erregten, reagierten sich ihre Sorgen in durchtanzten Nächten auf dieser Mammutdiele wieder ab.

Fünf junge Männer aus New Orleans boten im »Reisenweber« eine wilde entfesselte Musik. Sie waren Weiße; weil sie aber wie die Neger spielen wollten, hatten sie sich als Symbol schwarze Tuchmasken über ihre Gesichter gezogen. Sie nannten sich die »Original Dixieland Jass Band«.

Komische Töne oder auch Südstaatenmusik

Dominick James La Rocca, kurz »Nick« genannt, entlockte seinem Kornett Töne, die an verstimmte Militärmusik, an Walzeroder Polkapolonäsen erinnerten. Larry Shields lachte dazu auf seiner Klarinette, Eddy Edwards blies die Posaune, Henry Ragas saß am Klavier, und Tony Sharbaro ließ an der »Schießbude« die Trommelstöcke wirbeln. Noch nie hatten die New Yorker so bewußt der Südstaatenmusik zugehört.

Dixieland

Sie lernten in jenen Tagen zwei neue Worte kennen. Das eine Wort hieß Dixieland. Obwohl es auf keiner Landkarte zu finden war, ließ es sich erklären: Eine Bank in New Orleans hatte Zehndollarscheine ausgeliefert, die auf beiden Seiten mit dem Wort DIX bedruckt waren. Aus DIX wurde »Dixie«. Und »Dixie« war bald darauf der Begriff für die Südstaaten geworden, insbesondere aber für New Orleans. Die Musik, die aus diesem Landstrich kam, wurde »Dixieland« genannt.

Jass

Jass - nun, dieser Begriff, aus dem später das Wort »Jazz« wurde, ist bis heute nicht genau ethymologisch geklärt. Was die fünf jungen Männer aus New Orleans da aber vorzauberten, das war »Jass«, das war hinreißend, umwerfend, phänomenal. Der »Jass« wurde zur neuen musikalischen Mode von New York, ohne daß jemand das Wort zu erklären brauchte.

Und was sagt der Trichter dazu ?

Wird der Trichter sich nicht weigern, das aufzunehmen?
Kurz zuvor hatte der »Jass« auch in Chikago gezündet, im Hexenkessel der Windy City. Die »Original Dixieland Jass Band« hatte dort in den Casino Gardens gespielt.

Sie musizierten nicht nach Noten, diese Fünf. Jeder Chorus, jedes Solo ging wie Schall und Rauch im Schwoof der Ballsäle unter.

Im New Yorker Schallplattenbüro der Victor kamen ein paar Männer auf die Idee, diese notenlos gespielte Musik akustisch festzuhalten, ihren Klang phonographisch zu fixieren. Sie luden die fünf jungen Männer zu sich ein.

1917 im Victor-Studio

Am 26. Februar 1917 betraten sie das Victor-Studio in der 38. Straße. Sie waren nach neuestem Chick gekleidet: Nankinghosen, gestreifte Jacken, die fast bis an die Kniekehlen reichten, steifer, schmaler Kragen mit riesengroßer, knallbunter Krawatte, Hunde-deckchen über den Schuhen und Kreissäge auf dem Kopf.

Die Victor-Leute begrüßten sie keineswegs überschwenglich. Sie murmelten etwas von einer »amüsanten Spielerei«, von einem Experiment, das sie ruhig einmal wagen wollten.

»Und wenn's nicht gelingt, meine Herren, werden wir auch nicht gleich daran kaputt gehen. Ein bißchen besser als die alten Ragtime-Klavierwalzen wird's schon werden.«

Einer von ihnen war sehr gespannt darauf, ob der Trichter diese Art von Musik überhaupt aufnehmen würde, die sich »im Original wie ein undisziplinierter Lärm anhörte«.

Nun, wie dem auch sei: »Die Aufnahmen müssen auf Anhieb sitzen, meine Herren, sonst ist alles wertlos. Und bitte schön, dicht an den Trichter herantreten, meine Herren!«

Die »Original Dixieland Jass Band« spielte auf Anhieb zwei Stücke ihrer verrückten neuen Musikmode in den Trichter.

»Musik, die in der Lage ist, Mumien zum Leben zu erwecken«

Die Platten wurden schnell verkauft. Victor zog acht weitere Titel nach und pries sie als Musik an, »die in der Lage ist, Mumien zum Leben zu erwecken«. Dabei war auch eine ganz gewisse Nummer, die alle fünf Mitglieder der »Original Dixieland Jass Band« gemeinsam komponiert (besser: zurechtgespielt) hatten: der »Tiger Rag«!

Columbia und Edison sprangen auch auf den Zug auf

Ein Jahr später stiegen auch die Columbia und die Edison mit hochinteressanten Aufnahmen in das Jazz-Geschäft ein.

Die Schallplatte trug den Ruhm der fünf jungen Männer aus New Orleans über Länder und Meere. Auf dem Höhepunkt dieses Ruhms starb der Pianist Ragas, und bald darauf mußte Schlagzeuger Sharbaro die »Firma« wechseln: er wurde zur Army eingezogen.

Nick La Rocca engagierte zwei neue Musiker und reiste dann mit seiner Band über den Großen Teich nach London, um dort in einer bunten Hippodrome-Revue mitzuwirken. In London machte die englische Columbia zwanzig weitere Aufnahmen mit der »Tiger Rag«-Band. Und auch Pathe brachte kurze Zeit später erstmalig den Jazz in seine Aufnahmetrichter.

Ein völlig neues musikalisches Feld war für die Schallplatte gewonnen worden. Auf Millionen kreisenden Plattentellern der Neuen und der Alten Welt triumphierte der Jazz.

Platten sind besser als Lehrbücher und Visitenkarten

Jazz-Schallplatten schlugen nicht nur eine Brücke von den Musikern zu ihrem Publikum - sie waren auch als Mittler zwischen den einzelnen Musikern bedeutsam. Oft genug spielten sie die Rolle musikalischer Visitenkarten; die Männer des Jazz lernten sich per Schallplatte kennen und regten sich damit auch gegenseitig an.

Einer der Jazzmusiker, die die ersten Platten der »Original Dixieland Jass Band« genau studierten, ja auswendig lernten, war Leon Bismarck Beiderbecke, genannt »Bix«.

Dieser junge amerikanische Trompeter aus mecklenburgischer Familie war dauernd auf der Jagd nach neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten, und so jagte er auch nach Jazz-Schallplatten! Wenn eine neue sensationelle Platte herausgekommen war, konnte man Bix mitten in der Nacht aus dem Bett reißen und sie ihm vorspielen.

Der "Seat-Song" in der Nacht

Ein Auto taumelte durch die Nacht, eine biedere Tin-Lizzy aus Henry Fords ältestem Katalog. Vier Musiker aus Chikagos »Wolverine«-Band saßen darin: Frank Teschemacher, Dave Tough, Bud Freeman und am Steuer Mezz Mezzrow.

Das Auto tanzte, und die Musiker sangen. Sie sangen ein Lied, das sie soeben auf einer neuen Schallplatte gehört hatten: »Heebie Jeebies«.

Fünfundsiebzig Kilometer durch stockfinstere Nacht, von Chikago bis zum Hudsonsee, tanzte das Auto im Takte der Musik.

Gegen drei Uhr nachts stürmten die vier Jazz verrückten ein kleines Holzhaus in einem Ferienort. Sie wußten, daß hier Bix Beiderbecke wohnte, der gerade bei Gene Goldkettes Orchester engagiert war.
.

Nachts um 3 bei Bix Beiderbecke

Bix wurde brutal aus den Federn gejagt. »Wir haben dir da etwas mitgebracht«, sagte Mezz Mezzrow, kramte eine Schallplatte unterm Jackett hervor und legte sie gleich auf den Plattenteller des alten Trichterapparates, der in der Zimmerecke neben dem Bett stand. Schon drehte er die quietschende Kurbel.

»Los, spielt!« sagte Bix und kämmte sich mit den Fingern die zerzausten Haare. Er war hellwach. In voller Lautstärke erklang die »Heebie Jeebies«-Nummer von Louis Armstrong.

»Paß auf, Bix«, sagte Teschemacher. »Gleich kommt die Stelle, wo unserem Louis das Stück Papier mit dem Text aus der Hand fiel.«
»Hat er trotzdem weitergesungen?«
»Hör dir das an . . .«
Und da war auch schon der berühmte Part. Louis, zettellos und einfallsreich, sang, drosch und krähte die Nummer rücksichtslos weiter:
»Ee, gaff, mmmff, dee-bo, duh deedle-la bam, rip-bip-ee-doo-dee-dot - doo -roo-dee-doot -«
Das klang, als blase Louis einen seiner berühmten Trompeten-Riffs.

Die Musiker im alten Holzhaus brüllten vor Begeisterung. Diese Improvisation gefiel ihnen.

Der »Seat-Song« war geboren, jener textlose Vokal-Rhythmus, der später so viele kommerzielle Nachahmer fand.

»Royal Garden Blues« und »Singing the Blues«

Die Platte wurde in dieser Nacht so lange gespielt, bis die Nachbarn randalierten. Dann bauten die Männer einen Patent-Schalldämpfer in den Plattenspieler ein: sie steckten einen Radiergummi auf die Nadel und drückten eine weitere Nadel in Verlängerung der ersten in den Gummi. Dann ließen sie wieder die Platte kreisen. »Skeep, skam, skip-bo-dee-dah-dee-dat -!«

Mezzrow behauptet, diese Platte habe Bix und seinen Kollegen Frankie Trombauer wenig später dazu angeregt, zwei eigene Platten mit ähnlichen Riffs herzustellen. Auch diese Platten gelten heute als Sammlerstücke: »Royal Garden Blues« und »Singing the Blues«.

1921 - Zwischen Sünde, Jubel und Boykott

Jeder weiß indessen, daß es nicht nur Freunde des Jazz gibt. Die Jazz-Schallplatten hatten gerade in jenen Jahren mit erbitterten Gegnern zu rechnen. »Ladies Home Journal« brachte im August 1921 die alarmierende Schlagzeile:
»Ist der Jazz synkopierte Sünde?«

Mrs. Marx Oberndorfer, Musikchefin in der Generalföderation der US -Frauen vereine, schrieb: »Der Jazz ist ein Protest gegen Gesetz und Ordnung - lizenzierter Bolschewismus!«

Alsdann fand sie warme Worte für jene jungen Frauen, die in dieser barbarischen Zeit weiterhin dem alten Korsett treu bleiben und nach wie vor Mozart, Strauß und - höchstens einmal - Sousas Two-Steps tanzen. Doch Mrs. Marx Oberndorfer sah bereits die Gefahr heraufdämmern, daß diese Frauen in absehbarer Zukunft nur noch als Mauerblümchen in den Ecken der Ballsäle sitzen würden, »weil der Jazz schließlich obsiegen wird!« Wir spüren noch heute die zitternde Feder, mit der dieser Artikel geschrieben wurde.

Die Jazz-Schallplatte stand in den ersten Jahren haarscharf zwischen Boykott und Jazz-Fanatismus, zwischen Grand Prix und Verbot. Sie wurde bejubelt und verdammt zugleich.

Dem "lizenzierten Bolschewismus" Vorschub zu leisten

Einerseits verdächtigte man sie, dem »lizenzierten Bolschewismus« Vorschub zu leisten, andererseits bediente man sich der Schallplatte, um wesentliche Teile der amerikanischen Kultur zu konservieren.

Im Auftrage der Kongreßbibliothek von Washington nahmen die Gebrüder Lomax »Volkslieder der Vereinigten Staaten« auf Schallplatten. Unter ihnen befinden sich auch zahlreiche hochinteressante Jazzaufnahmen. So entdeckten die Lomax-Brüder in der Mörderzelle einer Strafanstalt den schwarzen Volkssänger Huddie Leadbetter und forderten ihn auf, seine Lieder in ihr Mikrofon zu singen. Der grauhaarige Huddie sang zur scheppernden Zwölf-Saiten-Gitarre seine Blues-Lieder von der Mississippi-Überschwemmung oder von dem Mann, der so entsetzt aufschreit, als er eine Heuschrecke auf seinem Kopfkissen entdeckt.

Wenn es die Schallplatte nicht gegeben hätte - keiner hätte die Stimme dieses großartigen Sängers hinter den meterdicken Zuchthausmauern hören können.

Nun, Leadbetter wurde später begnadigt und hat dann - nachdem er einmal im quergestreiften Kittel entdeckt worden war -auch in Freiheit gesungen.

1937 - ein Benny-Goodman-Konzert in der Carnegie-Hall

An einem Dezembernachmittag des Jahres 1937 fragte der Pressechef des berühmten amerikanischen Managers Sol Hurok den Journalisten Irving Kolodin:
»Was würden Sie von einem Benny-Goodman-Konzert in der Carnegie-Hall halten?«
»Eine fürchterliche Idee!« sagte Kolodin in Erinnerung an die ehrwürdige Tradition dieses New Yorker Konzerthauses. »Warum ?«
»Es war jemand von Goodmans Managern da«, antwortete der Pressechef. »Er möchte Hurok an der Sache interessieren.« Wenig später wurde diese »fürchterliche Idee« verwirklicht.

Goodman zog mit einer Monster-Besetzung in die Carnegie-Hall (Hodges, Young, James, Clayton, Basie, Wilson, Hampton, Krupa und andere Größen mehr) und gab ein sensationell bejubeltes Konzert. Das war ein Höhepunkt im Swing-Zeitalter!

»Es hat jemand mitgeschnitten!«

Publikum und Presse waren begeistert wie selten. »Zu schade, Benny«, sagte am nächsten Tag jemand zu Goodman, »daß niemand von der Sache eine Aufnahme gemacht hat.«

Goodman lächelte und antwortete: »Es hat jemand eine gemacht.«

Jawohl, das berühmte »Carnegie-Hall-Conzert« von Benny Goodman war mitgeschnitten worden. Die amerikanische Columbia brachte die Aufnahme in einem Langspielplatten-Album heraus - eine getreue Wiedergabe des inzwischen jazz-historisch gewordenen Abends vom 16. Januar 1938. (Hinter dem Link ist ein Anfrageformular zum Download.)

Die Schallplatte hat ein Ereignis gerettet und für die Nachwelt bewahrt.

Die Philips verzeichnet das »Carnegie-Hall«-Album seit siebzig Monaten als Bestseller auf dem deutschen Markt. (Anmerkung : Das war aber damals 1959 !!!)
.

Verschollene Größe von gestern herausholen

Die konservierenden Möglichkeiten der Schallplatte mehrten den Ruhm der Jazzleute. Sie trugen dazu bei, daß Lester Young »the President«, Edward Kennedy Ellington »the Duke«, William Basie »the Count«, James P. Johnson »the Dean« und Louis Armstrong »the King« wurden.

Die Schallplatte war auch das Motiv, daß in den dreißiger und vierziger Jahren manche verschollene Größe von gestern wieder herbeigeholt wurde. So war es etwa im Falle Bunk Johnson. Die alten New-Orleans-Platten dieses Pioniertrompeters waren noch in aller Ohren, als good old Bunk schon längst in der Versenkung verschwunden war.

Ein neues Gebiß für Bunk Johnson

1939 verlangte der Markt neue Bunk-Johnson-Platten. Mit detektivischem Scharfsinn wurde der alte Trompeter wieder aufgespürt. Man fand ihn auf den Reisfeldern Louisianas, und Bunk sagte zu den Schallplattenleuten:

»Was wollt ihr ? Ich fahre einen Lastwagen, und das bringt mir eindreiviertel Dollars den Tag. Sie wissen wohl, wie es hier im Süden mit den Negern geht. Aber gut, ich will wieder fit werden und Trompete blasen, wenn ihr wollt. Gebt mir eine Jazztrompete und neue Zähne. Ich bin gesund und habe auch saubere Kleider...«

Okay, man ließ Bunk von einem der besten Dentisten der Staaten ein neues Gebiß herstellen. (Seine echten Zähne soll er verloren haben, als man ihm vor Jahren die Trompete aus dem Mund schoß.) Alsdann schickte man ihn wieder vors Mikrofon. Und es ertönten erneut die alten Weisen aus New Orleans, so als habe es inzwischen keinen Chikago-Stil, keinen Hot und keinen Swing gegeben.

Bunks neue Schallplatten trugen dazu bei, daß drei Jahre später die »Dixieland-Renaissance« und das »New Orleans Revival« aufblühten.
So führen Schallplatten zu neuen Schallplatten.

1922 - Zwischen Grand Prix und Verbot

In Deutschland kam erst 1922 die erste Jazz-Schallplatte heraus, und zwar die »Original Dixieland Jass Band«. Aber schon bald darauf folgten die Platten der großen Solisten, zahlreiche Big-Bands und Rambler-Gruppen sowie einige der unvermeidlichen Semihot-Formationen.

Gewiß, es war nicht alles Jazz, was laut spielte und in Synkopen phrasierte. Jahrelang kannte kaum einer in Deutschland den Unterschied zwischen Jazz und Schlager. Die Verwirrung war groß: alles wurde zusammen in den Topf »schräge Musik« geworfen.

Über 600 Jazz Patten

Der Massenfabrikant englischer Tanzmusik, Harry Roy, der zwischen 1933 und 1939 weit über sechshundert Schallplattentitel produzierte, galt während dieser Zeit in Deutschland als reiner Jazz-Mann. Ein ähnlicher Irrtum mag bei den zweihundert Titeln des Nat Gonella vorgelegen haben.

Besitzer dieser Pseudo-Jazzplatten kamen sich damals aber - das brachte die Zeit mit sich - wie Widerständler gegen die marktbeherrschenden blonden Nationalschnulzen vor. Wir können das heute gut verstehen: schon der geringste jazzoide Klang atmete Freiheit!

1937 - Benny-Goodman-Aufnahmen in Deutschland verboten

Benny-Goodman-Aufnahmen wurden in Deutschland 1937 verboten. Es sind jedoch kaum Fälle bekanntgeworden, in denen jemand seine Swingplatten aus nationalem Eifer an die Wand warf. Bennys Schallplatten waren »trotz Verbot nicht tot«.

Als die Reichsmusikkammer die Jean-Goldkette-Aufnahmen »wegen des anstößigen jüdischen Nachnamens« verbot, brachte die Electrola die gleichen Aufnahmen unter dem Etikett »Jean's Orchester« heraus, und die hintergangenen Kulturwächter protestierten nicht mehr.

Der 2. Weltkrieg wurde in der Historie fast übergangen

Zahlreiche alte Schallplattenmatrizen fielen dem zweiten Weltkrieg zum Opfer. Die Firmen mußten mit Hilfe ihrer ausländischen Partner ihr Jazzrepertoire fast völlig neu aufbauen. Nur in geringem Maße kamen deutsche Jazzaufnahmen hinzu.

Nach 1945 in Deutschland

Zwischen 1945 und 1954 betrug die Jazzproduktion aller deutschen Schallplattenfirmen nur ein Fünftel der Produktion zwischen 1924 und 1939.

Dann aber - nach 1955 - begann auch in Deutschland der neue Siegeszug der Jazz-Schallplatte. Ihre Zahlen vermehren sich seitdem von Tag zu Tag in einem einzigartigen Crescendo.

Heute ist es so weit, daß viele Musikkenner den Jazz unter »Ernste Musik« in ihre Diskothek einreihen.

Der Jazz ist eine echte, große und schöpferische - eine ernste Musik! Seine Schallplatten beweisen es. Ohne diese Schallplatten aber hätte sich der Jazz nicht so stürmisch und weltumspannend entwickeln können.

Die History of Jazz ist ein Stück Großes Welttheater, das ohne die Rolle der Schallplatte nicht gespielt werden konnte.

(16) DIE GOLDENEN ZWANZIGER

»Es tut mir leid, meine Herren, Ihnen mitteilen zu müssen, daß die britische Regierung sich entschlossen hat, den deutschen Standpunkt in der Wiedergutmachungsfrage anzuerkennen«. Alfred Clark, Direktor der Gramophone Company rückte seine Brille zurecht.

»Also haben wir unsere Fabrik, die Deutsche Grammophon, für immer verloren«, wollte einer der Herren wissen, die sich Anfang 1922 im großen Sitzungssaal von Hayes bei London versammelt hatten.

1922 - wie man sich geeinigt hatte

Alfred Clark gab dem Syndikus der Firma ein Zeichen, der als Beobachter beim Schiedsvertrag über die Auslegung des Versailler Vertrages dabeigewesen war. Langsam erhob sich der schmale Mann im korrekten, dunklen Anzug:

  • »Ich darf kurz referieren! 1917 wurden die Aktien der Deutschen Grammophon als Feindvermögen von der deutschen Regierung beschlagnahmt, zum Kauf ausgeboten und von den Polyphon-Musik-Werken erworben, die sowohl unsere Aufnahmematrizen wie unsere Hundemarke benutzten. Nach Kriegsende meldeten wir unsere Regreßansprüche an.

    Sie wurden beim Schiedsvertrag zwischen Deutschland und Großbritannien geltend gemacht, als es darum ging, ob britische Untertanen ihre beschlagnahmten Vermögenswerte zurückverlangen können, wenn sie noch in natura vorhanden seien. Die deutsche Regierung stellte sich auf den Standpunkt, nur Staaten, die selber keine Liquidationen vorgenommen hätten, könnten eine Wiedergutmachung verlangen.

    Die englische Kriegshetze aber sei einer Liquidierung gleichzusetzen, und außerdem seien auch deutsche Vermögenswerte beschlagnahmt worden. Die Verhandlungen gingen also zu unseren Ungunsten aus, und die Polyphon darf weiter unter "Die Stimme seines Herrn firmieren".«

.

Eine neue Fabrik in Deutschland muß her

»Wenn man diese leidige Angelegenheit mit Fairneß betrachtet«, warf ein militärisch aussehender Herr ein, »was hat die englische Columbia mit den Auslandsunternehmen von Carl Lindström denn anderes gemacht? Es ist doch jetzt schon fast so, daß der ganze Lindström-Konzern den Columbialeuten gehört. Und wodurch? Durch den Krieg.«

»Fairneß hin oder her«, beendete Alfred Clark die Besprechung, »wir werden in Deutschland eine neue Fabrik gründen.«

Electrola - Start auf rotem Velours 1925

Im Jahre 1925 wurde in Nowawes bei Berlin eine deutsche Tochtergesellschaft der Gramophone Company unter dem Namen Electrola gegründet. Dieser Name leitete sich von dem (durch den Rundfunk entwickelten) elektrischen Aufnahmeverfahren ab, das nun auch auf die Schallplatte angewandt wurde. Diese technische Neuerung gab der Electrola vom Tag ihrer Gründung an einen gewaltigen Vorsprung.

Leiter der Electrola wurde Leo B. Curth. Am 27. März 1926 lud er zu einem wahrhaft stolzen Empfang (»Gefl. Gesellschaftstoilette«) in die Leipziger Straße 23 in Berlin ein. In Anwesenheit erlauchter Prominenz aus Kunst und Politik führte die Electrola ihre neuartige Technik vor: die Demonstration reichte von der elektrischen Aufnahmeapparatur bis zum berühmten Electrola-Koffer mit der modernen Schalldose. Alsdann wurden die neuen Verkaufsräume besichtigt.

Ein gutes Dutzend rotgekleideter Verkäuferinnen

Auf rotem Velours bewegte sich zur allgemeinen Augenweide ein gutes Dutzend rotgekleideter Verkäuferinnen, die allesamt Musik studiert hatten. Mit einem fröhlichen »Toi-toi-toi« hatten sie die luxuriöse Stätte ihrer künftigen Arbeit mit dem rechten Fuß zuerst betreten, und nun führten sie die Gäste stolz über zwei Etagen und durch achtzehn Kabinen.

Von Anfang an - Electrola-Qualität

»Der Ton steht mitten im Raum!« hieß der Werbeslogan der Electrola-Gesellschaft. Die gute Qualität ihrer Platten und Plattenspieler überrollte innerhalb einer Woche den Markt. Die Fabrik arbeitete von Anfang an auf Hochtouren, und das Netz der Electrola-Läden in Deutschland zog sich immer enger.

1926 - Columbia kauft Lindström

Ein Jahr später erlangte die englische Columbia die Aktienmajorität der Lindström-Gesellschaft. 1931 verbanden sich in England die Columbia und die Gramophone zur mächtigen Electric & Musical Industries Ltd. Dadurch gehörten Electrola und Lindström sozusagen zur gleichen Familie.

Die Fabrik in Nowawes wurde 1932 stillgelegt. Die Electrola siedelte in die Lindström-Fabrik im Südosten von Berlin, in die Schlesische Straße, um. Im gleichen Jahr vereinigten sich die "Polyphon" mit ihrer Auslandsgesellschaft "Polydor" zur "Deutschen Grammophon Aktiengesellschaft".

Während die EMI (Electric & Musical Industries) 1952 für Deutschland ihre Hundemarke zurückkaufte, ist der Begriff »Grammophon« heute nur noch für die Deutsche Grammophon geschützt.

Und wieder kommt etwas völlig Neues
"Die Stimme aus dem Äther"

Aufgeregt kam am 25. Oktober 1923 Bruno Seidler-Winkler in die Wohnung des Baritons Josef Schwarz in der Bayreuther Straße.

Die ganze Familie saß im Eßzimmer um einen riesigen Tisch, der mit Geld bedeckt war, und zählte. Diese zahlreiche Familie begleitete den Sänger auf allen Tourneen und war auch bei sämtlichen Schallplattenaufnahmen dabei, so daß Seidler-Winkler oft Mühe gehabt hatte, sie in den kleinen Aufnahmeräumen unterzubringen. Aber ohne seine Familie sang der Sänger nun einmal nicht. Dafür sang er jedoch bei allen seinen Gesprächen.

Wir suchen 1000 Mark - ein halbes Brötchen

»Was fühürt dich her, mein Freuheund?« fragte er mit pathetischem Tremolo.
»Eine tolle Geschichte«, berichtete Seidler-Winkler atemlos. »Eben war die erste Sendung aus dem Vox-Haus. Radio, Rundfunk, Stimmen und Musik über den Äther, verstehst du?«
»Nein, nein, neihein!« sang Josef Schwarz und wandte sich an seine Familie, »zählt weiter, zählt weiter, wir müssen den Feheheler finden!«
»Was zählt ihr denn wie die Verrückten«, Seidler-Winkler griff eine Handvoll Millionenscheine. »Packt doch das Zeug in einen Waschkorb und seht, daß ihr es los werdet. Morgen ist es nur noch die Hälfte wert.«
»Morgen ist das Zeug nur noch die Hähälfte wert«, sang Josef Schwarz verzweifelt, »zählt, zählt! O Bruno, das ist meine Gage von gestern abend, und es fehlen tausend Mark, ganze tausend Mahark!«

Er hat das mit dem Rundfunk nicht verstanden

Als Seidler-Winkler die Bayreuther Straße entlangging, schüttelte er den Kopf. Da regte sich dieser Mann um tausend Mark auf, für die man noch nicht einmal ein halbes Brötchen kaufen konnte, während gerade der Rundfunk seine Arbeit begonnen hatte und niemand voraussagen konnte, ob die Stimme aus dem Äther nicht die Stimme aus dem Trichter übertrumpfen würde.
.

Ja, wir haben keine Bananen

Einige alte Hasen der Schallplattenbranche waren bereits abgewandert: Max Hampe zum Beispiel und Georg Knoepfke, der zugleich erster Ansager und Direktor des Rundfunks war.

Bruno Seidler-Winkler beschleunigte seine Schritte, er mußte zu Aufnahmen mit Maria Jeritza in das Aufnahmestudio an der Köthener Straße. Er pfiff »Yes, we have no Bananas« vor sich hin.

Die Schlager machen das Geschäft

Mit den Bananen-Importen der Amerikaner war »Ausgerechnet Bananen« zum Hauptschlager geworden, und selbst die Parodie von Hermann Frey »Mein Papagei frißt keine harten Eier« wurde mit tödlichem Ernst überall gern gesungen.

Sämtliche Schlagerplatten wurden in den Läden gut verkauft, und da es ständig neue Schlager gab, konnte die Industrie produzieren, was sie wollte. Auf den Plattentellern drehten sich »Wir verkaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen«, »Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt«, »Schatz, laß mich dein Badewasser schlürfen« oder »Madonna, du bist schöner als der Sonnenschein«.
.

Eine gigantische Schallplattenkonjunktur fing an

Eine wahre Tanzwut erfaßte die Menschen. Tanzkapellen wurden gegründet, Tanzpaläste schossen aus dem Boden. Was und wonach man dort tanzte, wollte man auch zu Hause hören: von »Valencia« wurden in wenigen Jahren tatsächlich zweiundzwanzig Millionen Platten verkauft.

Und hier siegte die Platte über den Rundfunk: der Tanzfreund konnte sein Programm selbst zusammenstellen. Nicht umsonst bestand der größere Prozentsatz der Plattenproduktion aus Tanzplatten.

Je weiter die zwanziger Jahre sich ihrem Ende näherten, desto größer wurde die Schallplattenkonjunktur. Was sich auch nur musikalisch regte, wurde auf Schallplatten erfaßt, und aus der Unzahl der Aufnahmen leuchten einige noch zu uns herüber: unvergessen und unvergänglich.

Die Chansons der »Drei Nelson-Mädels«

Es sind die Lieder, die Richard Tauber mit seiner goldenen Stimme sang, es sind die Arien von Benjamino Gigli, dem Tenor, der nie einen leeren Stuhl sah, und es sind die frechen, traurigen Chansons der »Drei Nelson-Mädels« Marlene Dietrich, Hilde Hildebrand und Margo Lion.

Mit rauher Stimme versicherte die überschlanke Margo: »Und dann wird die holde Braut plötzlich ordinär« oder sang in der Revue : »Es liegt in der Luft« mit Marlene zusammen zu der Musik von Mischa Spoliansky »Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin . . .«. Marlene erklärte glaubhaft: »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt«, und bevor sie nach Hollywood ging, verabschiedete sie sich mit dem Chanson »Nachts geht das Telefon«. Hilde Hildebrand stellte im Duett mit Gustaf Gründgens fest: »Ach Gott, wie sind wir vornehm«, während der dicke Kurt Gerron sang:
»Ich bin das Nachtgespenst, dein süßes Nachtgespenst. Ich komme, wenn du pennst, so oft, bis du mich Liebling nennst.«

Es waren wunderschöne, herrliche Zeiten, die mit dem Schlager von Richard Heymann ihren Abschluß fanden:
»Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder, das ist zu schön, um wahr zu sein!«

Und noch eine Neuerung - das Mikrofon

Nach einem Festessen von sieben erlesenen Gängen ist man wohlwollend gestimmt und beurteilt das, was man erzählt bekommt, weniger kritisch. Walter Clark, leitender Direktor der Victor und wie sein Gramophone-Bruder Alfred ein Mann von Energie und Stehvermögen, hatte dieses Wohlwollen aber gar nicht nötig. Er gab in New Yorks altem Waldorf Astoria, an der Ecke der Fifth Avenue und der 33. Straße, den wichtigsten Schallplattenhändlern ein Bankett, auf dem er ihnen etwas wirklich Neues und Gutes vorstellen wollte: die ersten elektrisch aufgenommenen Schallplatten und ein ihnen adäquates Wiedergabegerät: das Orthophonic Victrola.

Nach der Vorführung, die die alten Schallplattenhasen sichtlich beeindruckte, stand der alte Philip Sousa auf, dem Hause seit langem verbunden, und sprach die eindrucksvollen Worte: »Meine Herren, das ist eine Wucht!«

Das Wunder der elektrischen Aufnahme
Mikrofon schlägt Trichter

Amerikas Marsch-Vater hatte militärisch präzis das umrissen, was die Musikkritiker in langen Artikeln würdigten: das Wunder der elektrischen Aufnahme.

  • »Wir haben den Aufnahmetrichter aus unseren Studios verbannt, an seine Stelle ist das Mikrofon getreten«, erklärte Walter Clark in seiner Festrede. »Und während früher der Sänger mit der Kraft seiner Lungen und Stimmbänder auf mechanische Weise die Membran des Aufnahmegeräts bewegen mußte, werden jetzt die kleinsten Luftschwingungen in elektrische Energie umgesetzt, die, wiederum in mechanische Schwingungen verwandelt, diese Arbeit leistet. Wir können also auch Orchesteraufnahmen mit der ganzen Fülle des Wohlklangs herstellen, ohne daß jedes Instrument sozusagen in den Aufnahmetrichter hineinspielen muß. Wir können in Kirchen, in Theater und in die Konzertsäle gehen und gleich an Ort und Stelle die Werke der Musik festhalten. Außerdem zeichnen wir zum erstenmal in der Geschichte der Schallplatte den vollen Umfang der Töne vom tiefsten Baß bis zu den höchsten Obertönen auf. Wenn wir bisher von Wiedergabetreue sprachen, so war es nur eine freundliche Illusion, jetzt ist sie jedoch Wirklichkeit geworden. Und wie Sie gerade gehört haben - die Schallplatten selber sind lauter geworden und frei von störenden Nebengeräuschen.«

.

Die Vorzüge des neuen Wiedergabegeräts

Er erläuterte sodann ausführlich die Vorzüge des neuen Wiedergabegeräts, um lächelnd seine Rede zu schließen:

»Vor einem Jahr noch war es ein Verbrechen, bei Victor in Camden vom Radio zu sprechen. Wir hatten alle eine Antipathie gegen diese neue Erfindung, eine Antipathie, die vielleicht der Sorge entsprang, sie könne uns überrunden. Jetzt«, er deutete mit einer weiten Bewegung auf Platten und Plattenspieler »ist uns das Radio sympathisch geworden, und wir werden eines Tages vielleicht mit ihm zusammengehen.«

Die Radio Corporation of America kommt ins Spiel

In Wirklichkeit waren schon im Mai 1925, also vier Monate vorher, die ersten Abmachungen zwischen Victor und der Radio Corporation of America (der RCA) getroffen worden, genauso, wie sich die Columbia mit der Western Electric geeinigt hatte und dadurch fünf Wochen vor Victor mit elektrischen Aufnahmen auf den Markt kam.

Im Dezember 1926, genau dreißig Jahre, nachdem Eldridge Johnson ins Schallplattengeschäft gekommen war, stieg er wieder aus. Er verkaufte seine Anteile für vierzig Millionen Dollar an eine Gruppe von zwei Banken, von denen die eine schon mit Edisons Phonographen spekuliert hatte.

Die Finanzleute verkauften nach neunmonatigen Verhandlungen den Victor-Komplex an RCA, die Radio Corporation, deren Chef und Motor David Sarnoff war, die ihre Schallplatten von dem Zeitpunkt an unter RCA-Victor herausbrachte und die Hundemarke, die sie seit geraumer Zeit für Amerika besaß, weiter beibehielt.
.

Christopher Stone erfindet einen Beruf
den Disc Jockey, Moderator oder Talkmaster

Der Gentleman, der das Studio des BBC in Savoy Hill betrat, hatte einige Jahre vorher mit seinem Schwager Sir Compton Mackenzie die Schallplattenzeitschrift "The Gramophone" gegründet und galt als Experte der schwarzen Scheibe.

Er wickelte sorgfältig ein Paket auf und entnahm ihm einen Stapel Schallplatten, den er dem Techniker gab, setzte sich vor das Mikrofon, schaute auf die Uhr und das Signallicht und begann zu reden.

Er hatte kein wohlvorbereitetes Manuskript, er sprach nicht mit geschraubten Worten. Er plauderte daher, wie ihm der Schnurrbart gewachsen war, und wenn er sich versprach oder einmal in einem Satz steckenblieb, lachte er entschuldigend und machte weiter, so als ob nichts geschehen sei.

Dazwischen aber legte er Schallplatten auf, brandneue Aufnahmen, alte aus der Raritätenkiste, Platten, die er besonders gern hatte und die er dem Publikum auch ans Herz und Ohr legen wollte.

Er gab ein paar erklärende Worte zur Platte ab oder erzählte eine amüsante Anekdote zu ihrer Entstehungsgeschichte.

In dieser Sendung wurde der Disc Jockey geboren. Das Wort gab es noch nicht dafür, es wurde erst in den dreißiger Jahren geprägt, doch den Hörern gefiel diese neue Form einer Sendung. Christopher Stone, der es »nur einmal probieren« sollte, legte Woche für Woche drei Jahrzehnte lang seine Platten auf, und Millionen in Europa hörten ihm zu.
.

1929 - Jetzt haben wir Hifi Qualität

Den »flüsternden Bariton« nannte man Jack Smith, der in den ganz feinen Hotels von London sang, wenn die ganz feinen Leute ihren Tee tranken und zwischendurch ein bißchen tanzten. Zunächst spielte er ein wenig Klavier und erzählte den Text zu der Melodie. Auf einmal gefiel ihm diese kleine Melodie so gut, daß er vom Erzählen unversehens ins Singen hinüberglitt: »Give me a little Kiss«, sang er, und er bezauberte nicht nur die feinen Leute von London, sondern Schallplattenkäufer in aller Welt.

Als sich Jack Smith einmal auf der Durchreise nach Karlsbad kurz in Berlin sehen ließ, war er im Handumdrehen von einhundertzehn Presseleuten umringt. Das Interesse der Zeitungen für Plattenstars war damals also nicht geringer als heute.

»Nun machen sie's so ziemlich alle nach. Tucholsky in der >Weltbühne< besprach als erster eine Platte«, schrieb Hans Reimann im »Stachelschwein«. »Es war die von Jack Smith interpretierte >Cecilia<, die ich per Zufall zur nämlichen Zeit kennenlernte (Januar 1927) und als Grundstein meiner Sammlung benutzte. Jetzt, nach sechzehn Monaten, habe ich mir das Vergnügen gegönnt, dir der Schallplattenreferate ...«

Reimann schließt mit einem Lob der Plattenqualität. »Ich glaube fast, wir sind an einem Spitzenpunkt angelangt, bei dem man sagen kann, es hat geschnappt. Bald werden die technischen Leistungen kaum mehr überboten werden können.«

Thomas Mann schrieb zur gleichen Zeit

»Ich liebe diese Erfindung, ich habe täglich Freude und Nutzen von ihr, ich bin ihr zum größten Dank verpflichtet, und ich darf sagen, daß ich ihr (im >Zauberberg<) meine Huldigung dargebracht habe zu einer Zeit, als sie sich, verglichen mit der Fortgeschrittenheit, in der sie sich heute darstellt, noch im Puppenstande befand.«

Sein Bruder Heinrich schrieb wesentlich nüchterner:
»Ich bin ein begeisterter Freund der rührig aufstrebenden Schallplattenmusik, die zweifellos auch eine kulturelle Mission erfüllt. Mein Reise-Electrola-Apparat ist mein ständiger Begleiter geworden. Und wenn ich einmal überarbeitet bin, lasse ich mich ebenso gern entspannen beim Anhören von Tanzschlagern wie von ernster Musik.«

Kanarienvögel - Die Stimmen der Natur ins eigene Heim

Karl Reich aus Bremen übernachtete oft in einem Aufnahmeraum des Studios in der Markgrafenstraße Berlins. Sein Chor sang nämlich nur um fünf Uhr morgens und auch dann nur, wenn die Sonne schien. Deshalb mußte Meister Reich unter dem Mikrofon schlafen, um auf die Minute pünktlich aufnahmebereit zu sein. Sein Chor bestand aus dreißig dressierten Kanarienvögeln, und die Schallplatten waren die Attraktion der Electrola. Mit Nachtigallen gekoppelt umsangen seine Kanarien »Hawaiian Memories« und »Armandola«, auf der Rückseite dieser Aufnahme zwitschern Waldvögel zu »Im Prater blühn wieder die Bäume«.

Dann auch noch Vogelstimmenplatten

Auch viele andere gefiederte Sänger ließen unter Karl Reichs behutsamen Händen ihre Stimmen erklingen. So inserierte die Firma:
»Unsere Vogelstimmenplatten wollen mit den wundervollen Gesängen der ausgesucht besten gefiederten Sänger aus Wald und Flur dem Naturfreunde reizvolle Frühlings Stimmung in sein Heim zaubern. Die Schwarzdrossel zieht als eine der ersten ihre köstliche Geige unter dem schwarzen Mantel hervor. Es frohlockt die graue Singdrossel, Herold unseres Waldes. Das Rotkehlchen ertönt wie ein feierlicher Kirchensänger, Schwarzplättchen jodelt wie ein Bänkelsänger, Gartengrasmücke orgelt auch bei Regen. Das reizende Gelbspötterchen schäkert, der kleine Zaunkönig ist ein wahrer Lebenskünstler, und Blaukehlchen kramt ungehemmt seine Geheimnisse aus.«

Ein Cello und die Nachtigallen

Die englische Cellistin Beatrice Harrison hatte sich dagegen auf Nachtigallen spezialisiert. Sie saß stundenlang Cello spielend in ihrem Walliser Garten, manchmal sogar zu feuchtklammen Frühstunden in Gräben oder unter Büschen, und feuerte die Tierchen zu jubelndem Gesang an. In der Nähe stand, als Bäckerwagen getarnt, um Neugierige abzuhalten, das erste fahrbare Aufnahmestudio von Hayes. Am erfolgreichsten wurde ihre Aufnahme, auf der eine Nachtigall ein süßes Obligato zu »Londonderry Air« singt.

Der »Käfer« - Faktotum des Studios - weiß und kann alles

Wenn einer der Journalisten irgend etwas über die Künstler erfahren wollte, wenn die Künstler selber Neuigkeiten von den Kollegen zu hören wünschten, wenn die Techniker einen Schraubenzieher benötigten oder einer Wagnersängerin bei einer Koloratur ein Knopf abgesprungen war - man wandte sich an den »Käfer«. Er war das Faktotum des Studios in der Markgrafenstraße, und seinen richtigen Namen kannte nur der Buchhalter, der das Gehalt auszahlte.

Er lieh dem Geigenvirtuosen Fritz Kreisler Filzpantoffeln, weil die Schuhe des Künstlers beim Teufelstriller leise knarrten. Er besorgte Benjamino Gigli aus einem Kuhstall in der Köpenicker Straße an einem Sonntagmorgen einen halben Liter Milch, als alle Geschäfte geschlossen hatten und weil Gigli sich weigerte zu singen, ohne vorher heiße Milch getrunken zu haben.

Er war dabei, als Porzellansammlerin Hermine Feist den »Hauskapellmeister« Leo Blech anherrschte: »Alles, was Sie sagen, ist Blech« und der Dirigent der imposanten Dame antwortete: »Gnädige Frau, so unhöflich wie Sie bin ich nicht.«

Verlange einfach mehr Gage

Dem »Käfer« hatte Michael Bohnen erzählt, was Schaljapin ihm geraten hatte, als sie zum erstenmal in London zusammentrafen: »Gehe hin in alle Welt und verlange mehr Gage.«

Der »Käfer« wußte aus dem Kopf, daß Toscanini seine erste Schallplattenaufnahme am 18.12.1920 dirigiert hatte, daß Stokowski am liebsten Aufnahmen in Kirchen machte, weil sie eine besondere Akustik haben, und daß Victor de Sabata die Intendanz der Mailänder Scala niederlegte, weil ihn die Lohnstreitigkeiten der Theaterfeuerwehrleute verrückt machten, obwohl er sich in der Freizeit mit Mathematik und Zahlen befaßte.

Er hielt für Georges Boulanger besonders viel Kolophonium bereit, besorgte Jack Hylton die richtige Zigarettenmarke und konnte die sieben Josephine-Baker-Platten auf Anhieb hersagen. Der kleine, immer flüsternde Mann lebte nur für die Schallplatten.

Schallplattenaktien müßte man haben

Diesen Stoßseufzer stieß Ende der goldenen Zwanziger mancher Börsenjobber aus, wenn er die Kurszettel studierte. Hjalmar Schacht zum Beispiel hatte welche. Die Aktien von Lindström notierten 1198, die von His Masters Voice 1350 und die der Columbia sogar 3500. Eine Hundertmark-Aktie also wurde mit 3500 Mark gehandelt. Das war sensationell. Die Aktionäre konnten bis sechzig Prozent Dividende kassieren und wurden reiche Leute.

45 Grad heiß und 400 Platten pro Tag und pro Presse

In den Fabriken der Schallplattenfirmen machten die Arbeiter Überstunden. Sie standen zwölf und vierzehn Stunden bei einer Temperatur von fünfundvierzig Grad vor den dampfenden Pressen, klatschten die zähen, schwarzen Biskuits auf die Urform und produzierten am laufenden Bande bis zu vierhundert Mal am Tag schwitzend Tschaikowskys »Nußknackersuite« oder »Sonny Boy«.

Keiner dachte an die Akkorde, die er preßte, jeder dachte nur an den Akkordlohn, und Beethoven preßte sich genauso schwer oder so leicht wie »Ramona«. Mozart auf dem Plattenspieler mag Freude und Genuß bringen, Mozart in der Presserei einer Schallplattenfabrik bringt guten Lohn.

30 Millionen Platten in Deutschland in einem Jahr

In einem Jahr wurden in Deutschland dreißig Millionen Platten hergestellt, in Amerika waren es einhundertzehn Millionen: riesige Stapel von schwarzen Schellack-Scheiben, die begierig gekauft wurden.

Zehn Millionen »Sonny-Boy-Platten« fanden den Weg in die Wohnungen der musikhungrigen Menschen, und von der Monster-Aufnahme »Adeste Fideles«, von viertausendachthundertfünfzig Stimmen in der Metropolitan auf Schallplatte gesungen, wurden monatelang täglich zweitausend Stück verkauft.

Die Schallplattenindustrie sah ihre Bäume in den Himmel wachsen.
.

- Werbung Dezent -
Zurück zur Startseite © 2007/2024 - Deutsches Hifi-Museum - Copyright by Dipl. Ing. Gert Redlich Filzbaden - DSGVO - Privatsphäre - Zum Telefon der Redaktion - Zum Flohmarkt
Bitte einfach nur lächeln: Diese Seiten sind garantiert RDE / IPW zertifiziert und für Leser von 5 bis 108 Jahren freigegeben - kostenlos natürlich.

Privatsphäre : Auf unseren Seiten werden keine Informationen an google, twitter, facebook oder andere US-Konzerne weitergegeben.