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(8) PAN RAPPAPORT SIEHT ROT
(zurück nach Europa und nachRussland)

Ein mittelgroßer Mann mit schwarzem Bärtchen und lustigen Äuglein hinter der dunkelgerandeten Brille turnte die Gangway des alten Amerikadampfers »Umbria« hinab. Aufatmend verließ er die Stätte seiner Seekrankheit und betrat den Kai von Liverpool.

Damit begann die Epoche des großen internationalen Schallplatten-Repertoires.
Der amerikanische »Musikjäger« Fred W. Gaisberg eröffnete die Ära eines neuen, faszinierenden »Kulturträgers«.

Es war ein höllenheißer Julitag im Jahre 1898.
Mister Gaisberg führte seltsames Gepäck mit sich: drei Schrankkoffer, fünf große Kisten mit phonographischen Aufnahmeapparaten, ein großes Faß mit Ätzsaure und ein Fahrrad mit modernen Ballonreifen.

Er war kaum dreißig Jahre alt, dieser smarte Amerikaner, doch er galt bereits als alter Hase der Musikindustrie. Einige Jahre zuvor hatte er als »Mädchen für alles« bei Edisons Graphophone im Distrikt Columbia gedient; nun war er als Produktions- und Programm-Manager Emil Berliners, ausgestattet mit allen Vollmachten, nach Europa gekommen.

Bei Pfirsich-Melba und Musik

Managing Director William Barry Owen erwartete Fred Gaisberg am nächsten Tage in London. Er hieß ihn herzlich willkommen und demonstrierte ihm sogleich das Londoner Nachtleben. Im exklusiven »Trocadero Grill« gab er ihm einen Empfang, der einen Scheich mit zwölf Haremsdamen hätte zufriedenstellen können. Umringt von Alkoholika, Hors d'oeuvres, Hühnchen, Puddings und Gefrorenem saßen die beiden Amerikaner schwatzend beieinander. Sie feierten den Sieg des Grammophons, bevor Gaisberg auch nur eine einzige Aufnahme im Kasten hatte.

Zum Nachtisch wurde die neueste Gourmand-Mode serviert: Eis mit Pfirsichhälften, Himbeermark und Likör.
»Das hat die Melba erfunden«, sagte Owen.
»Die Primadonna?«
»Ja. Ein hervorragendes Schleckerzeugs, nicht wahr? Genauso pikant wie die Dame selbst.« Owen begann über weitere Leckerbissen des Londoner Nachtlebens zu reden.

Nach einer Weile aber merkte er, daß ihm keiner mehr zuhörte. Gaisbergs Stuhl war plötzlich leer!

Fred Gaisberg war besessen und geschäftstüchtig

Jetzt wird er bei den Barmädchen sein, dachte Owen und lächelte. Aber er irrte sich. Fred Gaisberg stand auf dem Musikpodium und unterhielt sich angeregt mit Mister Leopold Jacobs, dem Kapellmeister des »Trocadero Grill«.

Er erklärte ihm das Wunder des Grammophons. Das Gespräch endete gegen Morgen mit der Unterzeichnung eines Vertrags zwischen Jacobs und Gaisberg.

Ein paar Tage später fanden bereits die ersten Aufnahmen statt. Owen staunte. »Ha - dein Tempo ist echt amerikanisch, Fred!«

»Grammophonisch!« verbesserte Gaisberg. »Und jetzt müssen wir uns auf Weihnachten vorbereiten, Bill.«
Owen erschrak. »Mitten im Juli?« stöhnte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Wir müssen uns mit Repertoire bis zum Hals eindecken«, belehrte ihn Gaisberg. »Das Schallplattengeschäft ist zur Hauptsache ein Weihnachtsgeschäft, okay, Bill?«

Nun gut, von diesem Tage an ließ auch Barry Owen keine Möglichkeit außer acht, das Repertoire zu bereichern. Mit Berliners Grammophonapparaten war er in seinem Maiden-Lane-Laden inzwischen glänzend ins Geschäft gekommen. Jetzt kam es auf den richtigen Plattennachschub an!

»Ma-Ma-Max weiß alles!«

In wenigen Monaten hatte Fred Gaisberg die Riesenstadt London nach allen musikalischen Besonderheiten durchkämmt. Er hatte alles im Kasten, was auch nur einen hörenswerten Ton von sich geben konnte.

»Die Melba machen wir später«, sagte er zu Owen. »Jetzt ist erst mal das Ausland dran.«

Kurze Zeit später begab er sich auf große Europareise. Leipzig, Wien, Budapest, Mailand, Madrid . . .

Ein paar hundert Titel pro Stadt

In jeder Stadt nahm Gaisberg ein paar hundert Titel auf. Der Gramophone-Katalog schwoll an, das Repertoire ging in die Breite. Es häuften sich die Matrizen: Zigeunerweisen und Fan-dangos, Heurigenlieder und Canzonen, Arien und Tanzlieder - eine singende, klingende Inflation nach Noten!

Fred Gaisberg in Rußland

Die sensationellsten Resultate aber erzielte Fred Gaisberg in Rußland, das seit einiger Zeit als das Dorado der Schallplattenhändler galt. Hier kam er ein Jahr lang aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Max Rubinsky, Rußland-Agent der Gramophone Company, holte Gaisberg in St.Petersburg vom Nordexpreß ab.
»Halten Sie sich nur an mi-mi-mich«, sagte er und klopfte dem amerikanischen Kollegen jovial auf die Schulter. »Ma-Ma-Max weiß alles!«
»Schon gut, Herr Rubinsky.«
»Außerdem spreche ich ein ex-ex-exzellentes Russisch!«
»Hab ich bereits bemerkt, Herr Rubinsky!« Gaisberg lächelte.

Max Rubinsky, Sohn eines russisch-amerikanischen Rabbiners

Tatsächlich entpuppte sich der stotternde Max Rubinsky, wohlerzogener Sohn eines russisch-amerikanischen Rabbiners, als ein Organisator ersten Ranges. Liebe und Schallplattenhandel, das waren für Max zwei Anliegen, die er mit gleicher Bravour durchfocht. Er hatte in diesen Sparten einen Stil entwickelt, in dem sich russische und amerikanische Methoden auf höchst interessante Art kombinierten.

»Be-be-besuchen Sie mich mal, Mister Gaisberg. Meine Frau w-w-w-wird entzückt sein.«

Als Gaisberg am nächsten Tage Rubinskys Haus betrat, zog der Agent ihn auf dem Korridor heimlich beiseite und führte ihn in ein geheimnisvolles Nebengemach. Dort sah es aus wie in der Schatzkammer eines Großfürsten. Im Dämmerlicht blinkten silberne Samoware, Kristallgläser, Porzellanvasen, Fruchtkörbe und goldene Etuis.

»Alles Geschenke v-von den Händlern«, raunte Max. »Sehen Sie, Mister G-G-Gaisberg, so 1-1-1-lieben die mich!«

Hände weg von Rappaport!

Ein paar Tage später erfuhr Gaisberg, was es mit dieser »Liebe« auf sich hatte. Der Petersburger Händler Rappaport erzählte ihm händereibend:

»Max ist ein tüchtiger Mann, zugegeben. Und sein Stottern macht ihn charmant - auch zugegeben! Aber in seinen Händlergesprächen versäumt Max keine Gelegenheit, das Geburtsdatum seiner Frau zu betonen oder das Datum seiner Hochzeit oder seines Berufsjubiläums. Auch auf kommende Feiertage wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten macht uns Max stets rechtzeitig aufmerksam. Und wenn er an diesen Daten herumstottert, dann wartet kein Händler, bis er seinen Satz zu Ende gebracht hat, sondern rennt gleich in den nächsten Juwelierladen, um eine goldene Uhr für Max oder eine Brosche für seine Frau zu besorgen.«
.

Das ist "Russische Liebe"

»So sehr lieben Sie ihn also?« Gaisberg lächelte argwöhnisch.
»Besser gesagt: so sehr liegt uns der Kredit am Herzen, den wir alle bei Max Rubinsky haben.«
»Aha, und der Kredit steht immer in einem gesunden Verhältnis zur Karatzahl der Goldetuis, wie?«
»Erraten, Mister Gaisberg! Aber versuchen Sie nur ja nicht, das zu ändern. Sie befinden sich in Rußland! Unsere Traditionen sind Jahrhunderte alt, und wir sind sehr orthodox.«
»Keine Sorge, Herr Rappaport - ich bin nicht als Missionar gekommen, sondern als Musikjäger. Mich interessiert eine andere Art von Jagdbeute.«
»Sehr, sehr weise von Ihnen, Mister Gaisberg. Jeder von uns hat hier nämlich seine ganz gewissen Nebenverdienste. Was Max betrifft: er besitzt eine kleine Druckerei, in der er alle Kataloge und Broschüren der Gramophone Company selber herstellt. Außerdem betreibt er in Moskau einen Altwarenladen und ein Kreditinstitut. Und auf dieses Institut sind wir als Händler angewiesen.«
»Hauptsache ist doch wohl, daß es Ihnen allen gut geht, Herr Rappaport?«

Pan Rappaport lächelte, nickte mit dem Kopf und rieb sich wieder die Hände. »Rußland ist wunderbar, Mister Gaisberg. In diesem Lande läßt Gott keinen verkommen, es sei denn, er verhungert oder wird erschossen.«

Rußland ist das Dorado des Schallplattenhandels

Seltsam, dachte Gaisberg - ausgerechnet Rußland ist das Dorado des Schallplattenhandels. Dabei wurde hier vor einem knappen Jahrzehnt noch ein Mann zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil er einen Phonographen öffentlich vorgeführt hatte. Ein Offizier des Zaren hatte ihn mit den Worten angezeigt: »Dieser Ketzer wagt es, uns mit mechanisch sprechenden Tieren zu belästigen!« Die Polizei übergab den Phonographen damals offiziell dem Feuertod.
»Nun gut, Rußland war phonographenfeindlich«, murmelte Gaisberg, nachdem Rappaport ihm diese Geschichte erzählt hatte. »Heute aber ist es grammophonfreundlich.« Dann verabschiedete er sich von Pan Rappaport.
»Wohin gehen Sie jetzt?« wollte der Händler noch wissen.
»Zu Ihrem Kollegen Lebel.« Rappaport wurde blaß.

Dann zog er Gaisberg am Ärmel dicht zu sich heran und flüsterte: »Trauen Sie dem Lebel nicht - der betrügt seinen eigenen Vater.«

Fred Gaisberg lernt schnell

Eine Stunde später drängte Schallplattenhändler Lebel seinem amerikanischen Gast den freundschaftlichen Rat auf: »Hände weg von Rappaport, Mister Gaisberg! Der hat kleine Mädchen verführt und wäre totsicher noch immer in Sibirien, wenn die Romanows ihn nicht amnestiert hätten.«

Gaisberg legte seine Stirn in Falten und schaute Lebel sorgenvoll an. »Ja, ja«, murmelte er dann, »das ist schon eine Branche! Auf Wiedersehen, Herr Lebel.«
»Was heißt hier > Auf Wiedersehen <, Mister Gaisberg? Warten Sie noch eine Weile. Ich habe Ihnen etwas vorzuschlagen.«
»Ja, bitte?« Gaisberg machte wieder ein freundliches Gesicht und war ganz Ohr.
»Sie haben doch nichts gegen Zobelpelze?«

Lebel führte seinen Gast ins private Nebengemach, schenkte ihm hundert Gramm Wodka ein, ließ ein Eisstück hineinfallen, überlegte eine Weile und sagte dann:
»Lieber Mister Gaisberg!« (Pause) »Mein guter Freund Rappaport und ich, wir haben nämlich eine ganz gewisse Idee. Diese Idee glänzt wie Gold, Mister Gaisberg, glauben Sie mir das! Und gerade darum wird auch unser gemeinsamer guter Freund Max Rubinsky dafür zu interessieren sein.«

Er machte wiederum eine bedeutungsvolle Pause, schaute Gaisberg mit listigen Äuglein an und fuhr fort: »Sie haben doch nichts gegen Gold, Früchte, Dienerschaft, Mister Gaisberg ? Nichts gegen Troikas und Zobelpelze ?«
»Nein«, antwortete Gaisberg kurz.

Man nennt es auch Korrumpieren oder Bestechen

»Gut, dann passen Sie auf, Mister Gaisberg. Alle diese Dinge können wir in absehbarer Zeit besitzen. Sie wissen genau, daß in Rußland die Urheberrechte ziemlich - na, sagen wir: ungeklärt sind. Es spricht also nichts dagegen, daß wir hier im Reiche des Zaren eine eigene Firma aufmachen - bevor andere es tun, meine ich -, eine Firma, die das Grammophonrepertoire auf eigenen Profit verkauft.«
Über Gaisbergs Nasenwurzel bildeten sich zwei kleine Zornesfalten.

»Sie verstehen etwas von der Aufnahmetechnik und von der Musik, Mister Gaisberg. Mein guter Freund Rappaport und ich aber verstehen etwas vom Verkaufen. Ist es da nicht naheliegend, wenn wir zusammen -«
»Herr Lebel, hören Sie -«
»Es wäre geradezu sträflich, wenn wir es nicht täten, Mister Gaisberg!«
Gaisberg erhob sich und ging schweigend zur Tür. Sein Blick war kälter als der Eiswürfel im Wodka.
»Nein!« sagte er scharf, als er die Schwelle überschritt.
Lebel staunte kopfschüttelnd hinter ihm her . . .
»Nun, Mister Gaisberg«, sagte Rappaport zwei Tage später, »wollte der Lebel Sie betrügen?«
»Ich habe ihm keine Gelegenheit dazu gegeben, Herr Rappaport.«
»Schön, Mister Gaisberg, dann werde ich Ihnen etwas sagen. Ich habe nämlich eine Idee.«

Schallplatten für das Auge

Nachdem Rappaport seinem Gast hundert Gramm Wodka ins Glas zelebriert hatte, sagte er händereibend:
»Sie werden schon gemerkt haben, Mister Gaisberg, daß Rußland ein Markt ganz besonderer Art ist. Bei uns sind zum Beispiel die Urheberrechte ziemlich - ja, wie soll ich das ausdrücken - ?«
»- ungeklärt!«
»Genau das, Mister Gaisberg! Außerdem: bei uns können sich nur reiche Leute einen Grammophonapparat leisten - Aristokraten und wohlhabende Kaufleute. Die zahlen allerdings jeden Preis, denn das sind sie ihrer gesellschaftlichen Stellung schuldig. Und diese Herrschaften sind keineswegs immer so musikalisch, wie Sie vielleicht annehmen, Mister Gaisberg. Sie wollen ihre Plattensammlung nicht abhören, sie wollen sie ihren Gästen zeigen! Verstehen Sie das?«
Gaisberg nickte.
»Ja., und wer etwas zeigen will, Mister Gaisberg, der will auch etwas wirklich Schönes in der Hand haben. Etwas, was dem Auge schmeichelt!«
»Worauf wollen Sie hinaus, Herr Rappaport?«
»Ihre englischen Schallplatten sind zu häßlich, Mister Gaisberg!«
Gaisberg erschrak. Das Argument war ihm neu! »Wie kann etwas, das nur für das Ohr gedacht ist, für das Auge zu häßlich sein?« wollte er wissen.
Rappaport lächelte sanft. »Ich bin nicht nur Händler, ich bin auch Verkaufspsychologe. Glauben Sie mir: die Schallplatten müssen schöner sein! Ein hübsches rotes Etikett, eine schöne Verpackung und ein Luxuspreis - das ist unsere Idee.«

Auf einmal sind die beiden Händler "Freunde"

»Wessen Idee?«
»Die Idee von mir und meinem guten Freund Lebel. Und wenn auch Sie sich an dieser Idee erwärmen könnten, dann wäre es sicher nicht verkehrt, wenn wir gemeinsam -«
»- eine Firma gründen?«
»Ja.«
»Nein!« Gaisberg erhob sich und ging.
Rappaport schaute stumm hinter ihm drein. Dann seufzte er und tat etwas, was er sehr selten tat: er trank hundert Gramm Wodka.

Tataren, Balalaikas und Champagner

In den folgenden Wochen gab Gaisberg es auf, sich weiterhin mit den Händlern zu unterhalten. Er widmete sich endlich der Arbeit, die ihm wirklich am Herzen lag: er machte Aufnahmen für seine Firma!

Er arbeitete mit russischen Chören und mit Zigeunerkapellen zusammen. Er nahm Soldatenlieder und Militärmärsche auf, Hymnen und Choräle. Er fuhr mit seinen fünf Apparatekisten und dem Säurefaß zum Osterfest ins ferne Nischni-Nowgorod, reiste per Schiff wolgaabwärts nach Kasan und produzierte etwa hundert Tataren-Platten. Er ließ Muezzins näseln und Popen singen, er fing Balalaikaklang und Kastratenstimmen auf. Er arbeitete mit dem Komödianten Peter Newski, dessen Platten später zu Tausenden verkauft wurden, und er komplimentierte auch den großen Opernbariton Kamionski vor seinen Aufnahmetrichter.

Mit Glück und Champagner die Aufnahmen gemacht

Auch die Stimme der geliebten Panina wurde von Gaisberg festgehalten. Sie blieb auf ihrem Stuhl sitzen, wenn sie mit satter dunkler Altstimme ihre Zigeunerromanzen sang; eine Tiroler Zither begleitete sie.

Bevor die Volkssängerin Tamara es wagte, vor den Trichter zu treten, mußte Gaisberg ihr zwei Flaschen Champagner einschenken. Dann aber sang sie, daß ringsum die Mauern zu schmelzen drohten. Nach der ersten Aufnahme schrieb er ihr einen Scheck über sechstausend Rubel aus, der als Pauschale für sechs Monate gedacht war.

»Nicht schlecht für einen Nachmittag«, sagte Tamara und verlangte von dieser Stunde an für jede Aufnahme sechstausend Rubel.

Am meisten war Gaisberg von der Vialtseva begeistert. Dieser Sängerin zahlte er zweitausend Pfund für zehn Lieder. Bei der Arbeit mit ihr passierte es, daß eine ihrer Aufnahmen wiederholt werden mußte; auf der Matrize hatte sich ein technischer Fehler bemerkbar gemacht.

»Singen Sie bitte das Gai-da, Troika noch einmal, Madame«, bat Gaisberg.

Die Vialtseva sang bereitwillig noch einmal, verlangte dann aber auch ein zweites Mal die Gage. Ihr Gai-da, Troika wurde später ein Bestseller, die Vialtseva wurde damit weltberühmt. Sie starb 1914 im Alter von vierzig Jahren. Obwohl man wegen einer notwendigen Bluttransfusion extra einen berühmten Berliner Arzt nach St. Petersburg gerufen hatte, konnte der zarten Frau nicht mehr geholfen werden. Ihre Beerdigung wurde zu einer prunkvollen Demonstration russischer Musikbegeisterung. Eine tausendköpfige Menge folgte dem Sarg der Vergötterten durch die breiten Boulevards der Newa-Stadt. Klagend klang aus tausend Mündern das Gai-da, Troika, und der gesamte Verkehr ruhte. Selten sind so viele Tränen um den Tod einer Sängerin geflossen.

Ein Zwischenfall im Nordexpreß

Während Fred Gaisberg sich seinen Aufnahmen widmete, war es Rappaport und Lebel gelungen, einen jungen und wohlhabenden Offizier für ihre Firmenidee zu gewinnen. Es hatte sich aber herausgestellt, daß nach Gaisbergs Absage in Rußland nicht genügend Grammophon-Ingenieure aufgetrieben werden konnten. So beschloß man also, den Vertrag in Paris zu unterzeichnen, um dort gleichzeitig der Pathe-Gruppe einige Spezialisten abwerben zu können.

In einem luxuriösen Sonderspeisewagen des Nordexpreß, hinter blauen Gardinen, wohlversehen mit Wodka und Sakuski, begab sich das Trio der Firmengründer auf die Reise in die ferne, schöne Lichterstadt an der Seine. Hinter Dünaburg schliefen die drei in ihrem Speisewagen ein.

Und in Wilna wurde Rappaport plötzlich aus seinem Wodkaschlaf geweckt. Der Zugschaffner stand vor ihm und nahm die Hand an die Mütze.
»Was ist ?!« fragte ärgerlich der Händler.

Ere ist soeben aus dem Zug gesprungen

»Der Herr Offizier sind soeben aus dem Zug gesprungen«, meldete der Schaffner und verließ den Speisewagen.

Rappaport rüttelte sofort seinen verkaterten Kollegen Lebel wach und verließ mit ihm ebenfalls den Zug. Mitten in der Nacht versuchten die beiden, die Spur des flüchtigen Offiziers aufzunehmen. Es gelang ihnen nicht. Mit leeren Händen kehrten sie nach Petersburg zurück und weinten gemeinsam ihrem zerronnenen Traum von der Weltfirma nach.
»Wer soll jetzt Schallplatten fürs Auge produzieren?« jammerte Rappaport.
»Wir müssen uns wieder mit Gaisberg verbrüdern«, sagte Lebel. »Wenn du ihn allerdings betrügen willst, dann wird das keinen Sinn haben, Rappaport. Ich habe ihn vor dir gewarnt.«
»Karascho! Aber das wird er dir nicht glauben, Lebel. Ich habe dem Amerikaner gesagt, was du für einer bist. Er hat dich durchschaut.«
Die beiden sahen sich an und schüttelten sachte die Köpfe. Und dann umarmten sie sich plötzlich, Tränen der Rührung in den Augen . . .

Der Zar soll phonographiert werden

Um Gaisberg für seine Idee mit den Rot-Etiketten zurückzugewinnen, hatte sich Rappaport einen besonders sensationellen Plan ausgedacht. Weil er wußte, daß dieser junge Amerikaner ein Idealist, ein reiner Repertoire-Narr war, arrangierte er eine Vorführung des Grammophon-Aufnahmeverfahrens im Palast des Großfürsten Michael.

»Und bei dieser Gelegenheit, Mister Gaisberg, werden Sie die Stimme des Zaren aufnehmen können. Ich bin davon überzeugt, daß Seine Majestät höchstpersönlich an den Trichter treten werden. Was sagen Sie dazu?«
Gaisbergs Augen leuchteten auf. »Großartig!« sagte er.

Die fünf Kisten und das Säurefaß wurden auf Schlitten verladen. Gaisberg, Rappaport, Lebel und einige Gehilfen bestiegen eine Troika und eilten im Galopp vor den Palast. Dort wartete bereits Max Rubinsky auf sie. Er hatte von ihrem Plan erfahren und wußte auch, daß Rappaport nur seine Idee mit der luxuriösen Rot-Etikett-Serie im Auge hatte. Begeistert rief er aus: »Laßt das nur den Ma-Ma-Max machen!«
Die Wache des Großfürsten schaute die Herren argwöhnisch an. Ein Offizier ließ sich genau die Apparaturen erklären.
»Nein, es sind keine Hö-Hö-Höllenmaschinen!« beteuerte Max Rubinsky immer wieder. »Und das Säurefaß wird für die Ätz- für die Ätzung der Zi-Zinkplatten gebraucht.«
Fast völlig erfroren durften sie endlich durch den Lieferanteneingang passieren.

Da staunten die Exzellenzen!

Ein stumpfnasiger Hofmarschall führte sie in den Palast. In der Ecke eines Riesensalons, zwischen Topfpalmen, Perserteppichen und Empire-Leuchtern bauten sie ihre Apparate auf. Ihr kalter Atem dampfte so sehr, daß der schwarzpolierte Steinway-Flügel beschlug.

Punkt neun Uhr betrat die fürstliche Gesellschaft den Salon und versammelte sich schweigend um die Maschinen: Seine Exzellenz General Bobrikow, der Gouverneur von Finnland, Alexander Tanejew, der Sekretär der Zarin, mit seinen beiden hübschen Töchtern, ferner seine Gattin mit ihren beiden Söhnen.

In einem makellosen Englisch begannen die Exzellenzen ihre Fragen zu stellen. Als sie sich genügend aufgeklärt fühlten, setzte sich Tanajew an den Flügel und spielte ein paar eigene Kompositionen.

Ein amerikanisches Lied für die Exzellenzen

Gaisberg staunte. Dann revanchierte er sich und sang mit einem seiner Gehilfen zusammen ein lustiges Negerlied in den Trichter.

Der Zink-Ätzprozeß wurde im Nebenzimmer erledigt, und zwanzig Minuten später ertönten die aufgenommenen Musiken vor den Ohren der entzückten Gesellschaft. Es war die erste Begegnung der russischen Exzellenzen mit dem Wunder der Phonographie.

Das Eis war gebrochen. Die Grammophonleute wurden nun mit Tee, Gebäck und Früchten bewirtet. Ein langes, herzliches und kultiviertes Gespräch kam in Gang.

Schließlich fragte Max Rubinsky:
»Und der Z-Z-Zar?«
»Seine Majestät befinden sich auf der Jagd bei Moskau«, wurde ihm geantwortet.
Damit war die erste und letzte Chance verpaßt, die Stimme des Zaren jemals auf eine Schallplatte zu bannen. Der Plan ist auch später nie gelungen.

Kein Zar, dafür aber Schaljapin

Die Grammophonleute schauten sich im Palast des Großfürsten Michael enttäuscht an. Dann legte Rappaport seine Hand auf die Schulter seines Nebenmannes und sagte:

  • »Lieber Mister Gaisberg! Es braucht ja nicht unbedingt der Zar zu sein, mit dem wir unsere gemeinsame Luxusserie unter dem Rot-Etikett starten. Ich wäre auch mit Fedor Iwanowitsch Schaljapin zufrieden! Einverstanden?«

.
Gaisberg sah forschend in Pan Rappaports Augen.
.

(9) DER FEURIGE DRACHE - Fedor Iwanowitsch Schaljapin

Fedor Iwanowitsch Schaljapin, der junge Bassist der Kaiserlichen Oper in St. Petersburg, ein semmelblonder Hüne, fast zwei Meter groß und zwei Zentner schwer, war so vom Erfolg verwöhnt, daß er auf die bescheidenen Angebote der Gramophone-Leute zunächst überhaupt nicht reagierte. Er lachte einmal kurz über die seltsame Musikmaschine, und dann kümmerte er sich nicht mehr um sie. Er sah überhaupt nicht ein, warum seine Stimme mechanisch gedoubelt werden sollte. Er wollte der Einmalige, der Einzige bleiben!

Der riesige Russensänger wurde erst nachdenklich, als die Gramophone-Leute auch mit Sobinow zu verhandeln begannen, mit Schaljapins großem Konkurrenten. Dieser Sobinow wurde von der Petersburger Gesellschaft als der größte lyrische Tenor seiner Zeit gefeiert. Er war ein glänzender Lohengrin, ein Idol der Damen in den Abonnementslogen, ein Kerl wie Samt und Seide: heiße Augen, weiche Stimme.

Schaljapins und Sobinow - Gaisberg wollte beide

Fred Gaisberg nahm mit beiden zugleich Gespräche auf und hielt den Stand der Verhandlungen streng geheim. Das machte beide Sänger unsicher. Die Eifersucht, die schon während der Jahrhundertwende zwischen ihnen herrschte, währte übrigens ein Leben lang: der eine hatte immer Angst, daß der andere mit höheren und ehrenvolleren Gagen beziffert würde.

Nur so war es zu verstehen, daß schließlich beide, Schaljapin und Sobinow, unterzeichneten. Sie haben es nie bereut; ihre Schallplattenverträge begleiteten sie bis an ihr Lebensende. Die Schallplatte trug ihren Sängerruhm bis weit über Rußlands Grenzen hinaus, machte sie weltberühmt.
Schaljapins Ruhm erreichte einen solch schwindelnden Höhenflug, daß er später pro Auftritt fünftausend Dollars verlangen konnte. Das internationale Publikum zahlte diese Liebhaberpreise, weil es seine Stimme von den Platten her kannte und den Sänger nun auch in Lebensgröße sehen und hören wollte - koste es, was es wolle!

Aber auch Sobinow wurde in seiner Glanzzeit zwischen 1900 und 1912 ein reicher Mann. Er sah sein Leben lang nur ausverkaufte Häuser. Über drei Saisons sang er in der Mailänder Scala und hatte 1913 unter Beecham in London einen geradezu sensationellen Erfolg. Nach der Revolution in Rußland aber verarmte er völlig. Er lebte in den grauen Jahren des Kriegskommunismus nur noch von dem Geld, das das Ausland ihm für einige Platten schickte, die im Jahre 1910 aufgenommen wurden. Das waren die Tage, da er Gott dankte, daß er damals den Vertrag mit Fred Gaisberg unterschrieben hatte.

Wolga, Wolga! - Ein Schwarzer in Moskau

Im berühmten Moskauer Yar-Restaurant fand in jenen Tagen die Feier zu Ehren des Schaljapin-Vertrages statt. Der baumlange Baß hatte das größte Chambre separee des Hauses gemietet und die Gramophone-Leute dazu eingeladen.

Als Fred Gaisberg mit Rubinsky, Rappaport und Lebel das »Yar« betrat, erwartete sie im Vestibül ein Mann, der als einer der verehrtesten Frauenhelden in Moskau galt und zugleich ein gefürchteter Plutokrat war: der sehr penibel gekleidete Mister Thompson, Besitzer des Yar.

Mister Thompson war Neger. Mit dem taxierenden Blick eines Juweliers begrüßte er seine Gäste und führte sie dann dem großen Schaljapin in die Arme.

Eine Nacht mit Schaljapin

Der lag ausgestreckt in den dunkelvioletten Fauteuils, umringt von Zigeunergeigern und Chorjungen. Lachend breitete er die Arme aus, sprang so impulsiv auf die Beine, daß sein Kopf plötzlich im Kronleuchter klirrte, und küßte seine Gäste schmatzend auf die Wangen. Dann begann die Musik zu spielen: sehnsüchtige, rhythmisch entfesselte Weisen, schwelgerische Melodien in Moll aus Rußlands ewigen Weiten. Und alle stimmten ein . . .

Auch Gospodin Thompson, der schwarze Gentleman, sang ergriffen mit, und der Blasebalg seines Brustkorbes drohte den Frack zu zersprengen. Keine einzige Frau nahm an dieser nächtlichen Feier teil. Die Männer blieben unter sich: Russen, Amerikaner, Juden und Neger. Sie alle spürten in diesen erfüllten Stunden zwischen Traum und Tag, was es bedeutet, wenn die russische Seele erwacht.

»Schwarze Augen«, »Abendglocken« und »Roter Sarafan«

»Wolga, Wolga« klang es im dämmerigen Separee, »Schwarze Augen«, »Abendglocken« und »Roter Sarafan«. Die Kerzen flackerten, die Eisstücke klirrten in die Wodkagläser. Die Hände griffen begehrlich in die Fruchtkörbe, in zierliches Backwerk, in Kosakenbrot und Schokoladenbutter. Die Feier dauerte bis zum Morgengrauen, und Schaljapin war glücklich wie ein Schuljunge.

Wenn er nicht gerade sang, dann erzählte er. Er sprach eine prächtige und bildhafte Prosa. »So schön wie hier war es nur in Ometowa, Freunde, in meinem Dorf. Wenn das Kienspanlicht uns um die Ohren sprühte, wenn der Regen die dreckigen Scheiben wusch und der Wind im Ofenrohr heulte - das war etwas! Wenn die jungen Witwen von ihren toten Männern träumten, die dann als feurige Drachen dahergeflogen kamen, he-hopp in einer Flammengarbe durch den Schornstein. Mitsamt ihrer unsterblichen Liebe. Feurige Drachen, Freunde!«

»Die Stimme aus dem Leibe reißen . . ./«

Die Gäste hörten hingerissen zu, wenn Schaljapin erzählte.
»So einer möchte ich sein und bleiben: ein feuriger Drache, der immer zurückkommt, wenn Frauen träumen. Der die unsterbliche Liebe immer wieder mitbringt, Freunde - noch in Jahrhunderten.«
»Wir halten Ihre Stimme fest, Fedor Iwanowitsch«, wagte Gaisberg zu sagen. »Wir machen sie unsterblich und überliefern sie der Nachwelt. Allen folgenden Jahrhunderten! Sie bleiben der feurige Drache, weil wir in der Lage sind, Ihr Genie zu konservieren.«

Schaljapin hörte gar nicht zu. Er träumte laut weiter:
»Ich war ein armer Kerl, und das ist noch gar nicht lange her. Hab als Schuster gearbeitet und als Säckeschlepper im Hafen von Baku. Und ich hab immer viel getrunken, um dieses Leben ertragen zu können. Kommt, ihr sollt auch trinken!«
Wie ein Poseidon ging er mit den alkoholischen Wassern um. Randvoll füllte er die Gläser. Blitzende Lachen bildeten sich auf der Tischplatte.

»Ich hab meinen Vater verachtet. Freunde - nicht, weil er ein armer Müller war - nein, weil er trank. Weil er soff! Und auch Marija hab ich verachtet. Ich lebte mit ihr zusammen in Baku. Ich verdiente dreißig Kopeken am Tag und arbeitete mich halbtot. Marija aber versoff diese Kopeken. Ich hab sie geliebt, und ich hab sie verachtet. Sie kam um im Delirium . . .«

Vom Wodka verändert - verwirrt - verlasen ?

Und plötzlich sang er wieder. Seine Stimme schien unangreifbar zu sein. Sie nutzte nicht ab. Sie blühte immer schöner und mächtiger auf. Bisweilen erschien sie den Gästen wirklich wie die Rachenflamme eines Drachen.
Plötzlich brach er ab und kniff seine Augen wie im Ekel zusammen. »Und jetzt soll ich an euren garstigen Trichter treten und meine Stimme an euch verschwenden, damit ihr sie unter fremde Leute tragt. Ihr wollt mir die Stimme aus dem Leibe reißen, ich weiß es genau, und sie in alle Welt schicken wie ein Buch oder eine verdammte Zeitung.«

Verächtlich blätterte er durch den Gramophone-Katalog, den Rubinsky mitgebracht hatte. Er las:
»Dwight Moody, der tubablasende Evangelist - der außerordentliche Tischredner Chauncy Depew - John Philip Sousa mit seiner Marschmusik. He Hölle - und jetzt Fedor Iwanowitsch Schaljapin . . .!«

Gaisberg erzitterte: Würde der Kerl den Vertrag noch im letzten Augenblick wieder kündigen ? Nein - Schaljapin fing plötzlich laut zu lachen an! »Schwamm drüber, Freunde - ihr seid anständige Kerle, alle, wie ihr da sitzt und sauft. Ihr sollt meine Stimme haben! Der Mensch muß schenken können, denn er ist nicht allein auf der Welt. Er hat Brüder . . .« Dann trank er wieder. Und dann sang er wieder, der große feurige Drache aus Rußland.

Die Red-Label-Serie

Mit Schaljapin startete Rappaport kurze Zeit später seine berühmte Red-Label-Serie, Luxusschallplatten mit fünfundzwanzig Zentimeter Durchmesser: rote Etiketten mit goldenen Buchstaben, eingepackt in schöne Papierhüllen.

»Alles für das Auge, Mister Gaisberg. Ein englisches Pfund pro Platte! Wir werden verdienen und außerdem unseren Ruhm vermehren.« Rappaport rieb sich die Hände.

Und Mister Gaisberg war mit dieser Lösung einverstanden. Es war nicht mehr nötig gewesen, für Rappaports Idee eine unabhängige Firma zu gründen. Gaisberg brachte die Red-Label- Luxusproduktion im Rahmen seiner Gramophone Company unter. Und alle Beteiligten waren zufrieden.

Rot-Etiketten und schierer Luxus in Russland

Große Namen erschienen auf den Rot-Etiketten: außer Schaljapin auch Sobinow und Medea Mei-Figner, die Primadonna, die die Lisa in Tschaikowskys »Pique Dame« kreierte und später den Cellisten Arturo Toscanini als Dirigenten entdeckte.

Die Red-Label-Serie spielte im Katalog der Gramophone Company um die Jahrhundertwende eine große Rolle. Sie wurde nicht nur zum optischen, sondern auch zum akustischen Höhepunkt unter den fünftausend verschiedenen Repertoirestücken der Company.

Und Pan Rappaport, der als erster erkannt hatte, daß auch das Auge mitkaufen will, ließ sich am Petersburger Newsky-Prospekt einen herrlichen Luxusladen einrichten. Rote Plüschsessel und Topfpalmen, Kristallspiegel und reichgeschnitzte Möbel lockten das eleganteste Publikum an.
»Von mir kriegst du jeden K-K-Kredit«, rief Max Rubinsky begeistert aus, »und am 5. Mai hat meine Frau Ge-Ge-Geburtstag.«

Schaljapin vor dem Trichter

Die Aufnahmen mit Schaljapin in der Gramophone-Filiale von Petersburg wurden fast jedesmal zu einer Nervenprobe.

Meist bestellte man den Sänger um zwei Uhr am frühen Nachmittag. Doch man wartete stets vergebens auf ihn. Endlich, gegen acht Uhr, gab es einen Auflauf vor dem Gebäude. Die Techniker liefen an die Fenster und sahen, wie der riesige Schaljapin aus der Droschke stieg, seinen Kutscher vom Bock zerrte und ihn mit einem mächtigen Handstock verprügelte. Dem Kutscher machte das aber nur wenig aus; er war in dicke Pelze gehüllt.

Schaljapin war auch noch ein Karikaturist

Die Aufnahme fand in einem mittelgroßen Zimmer statt, an dessen Breitseite ein reichhaltiges kaltes Büfett aufgebaut war. Neben dem Sessel, der für Schaljapin bestimmt war, lagen Zeichenblock und Kohlestift, denn genauso wie Caruso liebte es der Sänger, während der Aufnahmen Karikaturen der Anwesenden zu zeichnen.

Erst wenn Schaljapin an den Trichter treten mußte, zog er seinen mächtigen Pelz aus und stand in der Jacke da, über deren Aufschlag der Schillerkragen eines weißen Hemdes gebreitet war.

Die Aufnahmen dauerten oft bis zwei Uhr nachts. Häufig wurde Schaljapin dabei vom Privatorchester des Zaren begleitet. In den Pausen zwischen den Liedern trank, aß und zeichnete er ununterbrochen.

Seine machtvolle Stimme schien die Wände des Zimmers zu sprengen. Bisweilen war es dem Sänger unheimlich, daß keiner ihm Beifall spendete, und er verlor dann plötzlich die Lust. In solchen Fällen zitierten die Gramophone-Leute eiligst ein Publikum herbei, das sich während der Schaljapin-Aufnahmen im Studio aufzuhalten und begeistert zu applaudieren hatte.

Schaljapin war nicht nur Sänger, sondern vor allem auch Schauspieler. Er brauchte ein Auditorium, ein lebendiges Echo.

Seine mächtige Stimme wirkte sich außerordentlich belebend auf den ganzen internationalen Plattenmarkt aus. Die Konkurrenz wurde stärker. Der künstlerische Maßstab der Plattenproduktionen wurde notgedrungen heraufgesetzt.

Vorsichtig wie Spione!

Weil in Rußland schon damals die Urheberrechte nicht so ernst wie in anderen Ländern genommen wurden, ging man bald zu unlauteren Geschäftsmethoden über: man fälschte Schaljapin-Platten!

Man druckte seinen Namen auf imitierte Rot-Etiketten, obwohl auf der Platte eine ganz andere Stimme erklang.
An einem schönen Frühlingsvormittag erhielt Fred Gaisberg in seinem Petersburger Fontanka-Studio einen interessanten Besuch. Joe Cummings, Sänger bei einer Konkurrenzfirma, kam überraschend zu ihm und bat ihn um Geld.

»Du weißt, daß ich einen Jahresvertrag mit der Finckelstein Company unterzeichnet habe, Fred. Nachdem ich nun aber sechs Monate mit den Leuten zusammengearbeitet habe, können sie plötzlich nicht mehr zahlen. Sie verlangen von mir, daß ich wie Schaljapin singe - ja, und damit kann ich leider nicht dienen. Und du bist verantwortlich für mein Unglück, Fred.«

Gaisberg initiiert Gegenspionage

Gaisberg horchte auf. Er hatte gerade erfahren, daß die Finckelstein-Company zu jenen Piratenfirmen gehörte, die gefälschte Schaljapin-Platten zu niedrigen Preisen herausbrachten, um sich auf dem Markt halten zu können.
»Weißt du Genaueres darüber, Joe?«

Cummings zuckte mit den Schultern. »Mich interessiert nur eins: Geld, Fred! Meine Frau in London ist krank, und ich kann ihr nichts schicken. Es ist zum Verzweifeln!«

»Höre, ich werde dir das Geld für deine Frau geben, okay ? Aber du könntest mir ebenfalls einen Gefallen tun: sag mir Bescheid, Joe, wenn die Finckelsteins mal wieder Schaljapin-Platten pressen.« Cummings erklärte sich einverstanden.

Man ging so vorsichtig zu Werke, als handle es sich um ein Spionageunternehmen. Gaisberg und Cummings taten von diesem Tage an so, als ob sie sich nicht mehr kannten. Sie verabredeten aber einen Ort, an dem sie sich zu bestimmten Zeiten trafen.

Eines Tages gab Cummings das Zeichen.

Er ließ ein Taschentuch fallen, hob es wieder auf und faltete es umständlich zusammen. Gaisberg sah es und rannte sofort zur Polizei. Die rückte mit einem Spezialtrupp aus und besetzte die Finckelstein-Fabrik. Innerhalb von zwei Stunden waren alle falschen Matrizen beschlagnahmt. Ein paar Tage später wurden auf Anweisung des Staatsanwalts sämtliche gefälschten Platten zerstört.

Es war eine Gaudi für die bärtigen Russenpolizisten: eine Stunde lang warfen sie mit wachsender Begeisterung Schallplatten an die Wand - klirr-bumm!

Die Gäste verlangten Gaisbergs Blut

»Rußland ist wunderschön!« schrieb Gaisberg in sein Tagebuch. »Ein Winter mit Schnee, Pelzen und Troikas. Ein Sommer mit Bienen, Honig und Fliegen. Ich würde jederzeit freiwillig in dieses herrliche, große Land zurückkehren.«
Doch zunächst mußte er wieder westwärts reisen, der immer fleißige und findige amerikanische Musikjäger.

Auf der Reise durch Polen schaffte er es, den berühmten Kantor Kwartin in der Warschauer Synagoge vor seinen Aufnahmetrichter zu bringen. Es entstanden die ersten Schallplatten der Welt, die in einem Tempel aufgenommen wurden, ohne jede Musikbegleitung.

Zu Gaisbergs ständigem Reisegepäck gehörten die furchtbaren Fässer mit der Ätzsäure, die damals für den technischen Prozeß der Zinkätzung gebraucht wurden. Damit diese Fässer nicht in unrechte Hände gerieten, mietete Gaisberg stets ein gesondertes Hotelzimmer für ihre Aufbewahrung.
Eines Nachts passierte ihm ein unerwartetes Pech.

Ein geplatzes Säurefaß ar der Auslöser

In der Kälte des Warschauer Winters platzte eines der irdenen Säurefässer auseinander. Die hellgrüne Flüssigkeit fraß sich dampfend durch den Fußboden und tropfte ins untere Zimmer einem harmlosen Schläfer auf die Bettdecke. Sie zerfraß die Plumeaus. Und dann gellte plötzlich ein schauerlicher Schrei durch das Hotel!

Eine mächtige Aufregung packte die Gäste in allen Zimmern. Sie traten auf die Gänge heraus und fragten, ob hier soeben ein Mord geschehen sei. Die Zimmermädchen brachten nach einer Weile die Aufklärung. Und dann setzte sich die verschlafene Gästeschar in Nachthemd und Bettschuhen empört in Bewegung.

Es pochte und dröhnte an Gaisbergs Tür. Die ganze Hotelbelegschaft war auf seinem Korridor zusammengelaufen, beschimpfte den »lebensgefährlichen Musiker« und sein elendes Grammophon und verlangte schließlich mit drohenden Fäusten das Blut dieses verdammten Kerls, der Ätzsäure brauchte, um Musik zu machen.

»Besuch mich mal in Amerika, Max !«

Mitten in der Nacht wurde der blasse Fred Gaisberg aus dem Hotel hinausgeworfen. Nur mit Mühe konnten seine beiden Mechaniker die Aufnahmeapparaturen und das zweite, noch unbeschädigte Säurefaß in Sicherheit bringen. In klirrender Kälte standen sie frierend auf dem nächtlichen Warschauer Boulevard.

Das persönliche Gepäck lieferte man ihnen erst aus, nachdem sie bare tausend Rubel Buße für den säuregeschädigten Gast bezahlt hatten.

Auch Max Rubinsky war in dieser aufregenden Nacht in Warschau. »M-m-mach dir nichts draus, Fred«, sagte er. »Kultur muß immer mit O-O-Opfern erkämpft werden. Die Masse ist du-dumm.«

Gaisberg lächelte: »Schönen Dank, Max, daß du mich bis hierher begleitet hast. Grüß Mütterchen Rußland von mir; sag ihm, ich liebe es. Und besuch mich mal in Amerika!«
»Ge-gern, Fred. Cheerio und doswidanje!«

Zu Beginn des ersten Weltkriegs begab sich Rubinsky tatsächlich auf die Reise nach Amerika. Er freute sich darauf, seinem guten alten Freunde Fred Gaisberg in der Neuen Welt wieder einmal die Hände schütteln zu können.
Doch die beiden sollten sich nicht mehr wiedersehen. Auf dem Atlantikdampfer mitten im fröhlichen Pokerspiel starb Max Rubinsky. Er hatte gerade ein »full house« in der Hand ...

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