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Gerhardt Ronnebergers Autobiographie - Deckname "SAALE" - aus 1999 - ein Generaldirektor erzählt .....

Gerhardt Ronneberger, geboren im März 1934 in Saalfeld († 2013 ?) schreibt 1999 in seiner Autobiographie (1982–1999) auf etwa 370 Seiten, wie es wirklich zuging beim MfS, der Stasi und den Betrieben in der "Deutschen Republik". Da er nie in einem richtigen Ossi-Gefängnis eingesperrt war, fehlt diese Erfahrung völlig, dafür aber die Zustände in einem West-Gefängnis und wie es dazu kam und vor allem, was danach bis zur Wende im Dez 1989 kam. Der Einstieg beginnt hier und mein Resume über das Buch endet hier.

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Kapitel 10
Das Ende: „Ich befehle!"

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Der Zusammenbruch der DDR

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Seit Neujahr 1989 war die Atmosphäre merklich aufgeheizt

Nicht nur wegen der Hochstromimplanter standen wir unter Hochspannung, in jenem Jahr 1989. Seit Neujahr, eigentlich schon lange vorher, war die Atmosphäre merklich aufgeheizt.

Unsere Partner, Lieferanten und Informanten aus dem Westen schilderten immer öfter und dramatischer, wie die dortigen Behörden und Dienste gegen unsere Aktivitäten zur Durchbrechung des Embargos vorgingen. Und zwar mit Erfolg.

Verträge, die eigentlich unter Dach und Fach waren, wurden verzögert, dadurch traten Störungen in der Mikroelektronik-Industrie der DDR auf, kurzfristige Alternativlösungen konnten meist nur das größte Übel abwenden. Hektik bestimmte unsere Arbeit. An manchen Tagen fühlte ich mich wie eine Tanzmaus im Laufrad.
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Unser Hauptproblem - die Honnecker/Mittag Entscheidungen

Das Hauptproblem lag freilich ganz woanders. Honeckers Lieblingskind, die Neuentwicklung des 1 -MBit-Schaltkreises und des 32-Bit-Mikroprozessors und deren Oberleitung in die Produktion, verlangte nach immer neueren und teureren Ausrüstungen.

Auch das Ministerium für Elektrotechnik/Elektronik forderte zusätzliche Valutamittel. Doch das überschritt die finanziellen Möglichkeiten unseres Ländchens seit langem. In großen Teilen der DDR-Gesellschaft und -Wirtschaft machte sich seit langem eine Stimmung gegen die Chip-Chip-Hurra-Euphorie des SED-Politbüros breit.

Denn das dafür abgeknapste Geld fehlte an allen Ecken und Enden. Andere Bereiche der Volkswirtschaft warteten auf lebensnotwendige Investitionen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. In den Bezirks- und Kreisstädten war die zerfallende Bausubstanz nur noch mit der rosaroten Brille zu übersehen.

Die Maschinen und Anlagen wurden auf Verschleiß gefahren

Andere Wirtschaftsbranchen warteten schon seit Jahr und Tag auf nur einen Pfennig Investitionen, man fuhr die Maschinen und Anlagen auf Verschleiß.

In diesem allgemeinen Unbehagen wagte sogar die Staatliche Plankommission mit ihrem Leiter, Gerhard Schürer, aufmüpfig zu werden, um gegenüber Günter Mittag eine Korrektur der bisherigen Wirtschaftspolitik, auch auf dem Gebiet der Mikroelektronik, durchzusetzen.

Doch Wirtschaftslenker Günter Mittag war weder zu einer Korrektur bereit noch konnte oder wollte er das notwendige Geld zur Verfügung stellen. Auch die Feuerwehr vermochte nicht mehr einzuspringen - die Kassen von KoKo waren zwar noch nicht leer, aber die beiden Mielke- und Honecker-Konten konnte auch Schalck nicht öffnen.

Die Zahlungsbilanz der DDR hatte sich katastrophal verschlechtert, die DDR-Wirtschaft trudelte endgültig in die Sackgasse und stand vor dem Kollaps.
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Schalck sprach mit uns sehr offen über die prekäre Lage

Schalck sprach zwar sehr offen mit uns über die schwierige wirtschaftliche Lage der DDR und lies keinen Zweifel daran, daß sich damit auch die politische Situation für die DDR weiter verschärfen wird, aber die ganze Tragweite des ökonomischen Desasters begriffen die wenigsten.

Auch ich gehörte nicht zu den paar Insidern der oberen Etagen, denen die ungeschminkten Informationen vorlagen. Anders mein Chef Alexander Schalck. Er kannte sie bis ins Detail.

Schließlich hatte er gemeinsam mit dem Vorsitzenden der "Staatlichen Plankommission der DDR", Gerhard Schürer, dem Minister für Außenhandel, Gerhard Beil, der stellvertretenden Finanzministerin, Herta König, und dem Präsidenten der Deutschen Außenhandelsbank, Werner Polze, einen Lagebericht für den SED-Generalsekretär erarbeitet Das wiederum hatte sich im Bereich KoKo herumgesprochen und auch meine Ohren erreicht
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Die Geheime Kommandosache b5-l 11/89 vom 28. Sept. 1989

Der Lagebericht wurde nach der Wende als Geheime Kommandosache b5-l 11/89 vom 28. September 1989 bekannt und erstmals in der TAZ vom 19. März 1990 veröffentlicht.

Er war ein letztes Alarmsignal : Die DDR war völlig überschuldet, die bisherige Wirtschaftspolitik konnte so nicht mehr fortgesetzt werden. Doch ein Konzept zur Veränderung gab es nicht.

Der greise Honecker - unterstützt von seinem greisen Adlatus Mittag - hielt stur an seinem bereits 1971 verkündeten Programm fest, an der berühmt- berüchtigten „Hauptaufgabe in der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik".

Fast schien es, als klebe er an seinen Erfahrungen aus den 1920er und 1930er Jahren und den hehren Forderungen der Arbeiterbewegung: keine Erwerbslosigkeit und keine Suppenküchen mehr, dafür Arbeit und bezahlbare Wohnungen für alle, stabile Preise für Grundnahrungsmittel - und das alles bis zum "Geht-nicht-mehr" staatlich subventioniert.

Nur woher das Geld für diese stetig wachsenden Ausgaben kommen sollte, stand in den Sternen.

Quelle : Günter Mittag: Um jeden Preis, Berlin 1991, S. 288 ff.
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Gerhard Schürer packt aus - aber erst im Juli 1990

Was er im September 1989 noch vorsichtig-wohlwollend formuliert hatte, packte Gerhard Schürer im Juli 1990 in einem Interview mit der Wirtschaftswoche nicht mehr in Watte.

Unter der Überschrift „Die Bilanz war gelogen" stellte er klar:

„Natürlich begann die Verschuldung der DDR früher. Anfang 1970 hatten wir nur eine Milliarde Dollar Schulden. Das war noch solide. Aber die Verschuldung stieg bis 1978 auf fünf Milliarden Dollar. Am Ende der Ära Honecker betrugen unsere Auslandsverbindlichkeiten exakt 20,6 Milliarden Dollar. Diese Zahlungsbilanz war immer geheime Verschlußsache."

Auf die Bemerkung, daß ohne Schalck und sein Imperium die Zahlungsbilanz noch katastrophaler ausgesehen hätte, antwortete Schürer:

„Sicher. Die Schalck-Firmen, wir nannten sie Devisenausländer, brachten der Zahlungsbilanz jedes Jahr zusätzlich zwei bis drei Milliarden Valuta-Mark ein. Insgesamt hat Schalck der DDR mindestens 50 Milliarden erwirtschaftet."
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Schürers Meinung zum Mikroelektronikprogramm der DDR

Schürer hielt aber auch nicht mit seiner Meinung zum Mikroelektronikprogramm der DDR hinterm Berg:

  • „Die Milliardeninvestitionen in die Mikroelektronik waren von Anfang an in den Sand gesetzt. Ich habe im Mai 1988 meine Retormvorschläge schriftlich an Honecker geschickt. Darin kritisierte ich die Überkonzentration der Gelder im Bereich der Mikroelektronik und forderte statt dessen einen Ausbau der exportstarken Maschinenbauindustrie. Mittag kritisierte mein Papier, und damit war für Honecker die Sache erledigt. Das erstaunlichste aber war: Als das Material in die Regierung kam, stimmten auch die Vertreter der Blockparteien, die nicht wie die SED-Genossen an Parteidisziplin gebunden waren, gegen mich. Hinterher kamen sie zu mir, lobten mich und sagten, das war ein gutes Reformkonzept."

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Eigentlich war auch ich bereits abgehoben und betriebsblind geworden

Wie gesagt, von solchen Einzelheiten hatte ich im September 1989 noch keine Ahnung. Ich bemerkte auch nicht, wie sich seit Monaten unter den Bürgern Unmut und Unzufriedenheit breitmachten, wie die Stimmung immer schlechter wurde. Zweifel an der innenpolitischen Stabilität kannte ich schon gar nicht.

Vielleicht lag das an meiner Arbeit, an meinem Aufgabengebiet, an meinen Mitarbeitern, Kollegen, Genossen Freunden und Bekannten. In unserem Bereich arbeiteten fast nur handverlesene Mitarbeiter, die sich mit der DDR gefühlsmäßig und intellektuell voll identifizierten. Sie hatten gute Arbeitsbedingungen und standen auch materiell nicht schlecht da.

Ihre komplizierte und anspruchsvolle Arbeit wurde anerkannt und leistungsgerecht entlohnt, wodurch ein relativ hoher Lebensstandard möglich war. Unzufriedenheit war in unserem Kollektiv jedenfalls kaum spürbar.

Lebten wir in einer Schlaraffenland-Enklave ???

Andererseits lebten wir nicht in einer Schlaraffenland-Enklave, sondern verfolgten mit wachem Blick die Vorgänge um uns herum.

Manche stellten zunehmend Fragen, andere äußerten in wachsendem Maße ihre Zweifel. Zwischen uns gab es nicht zu allen Fragen uneingeschränkte Zu- und Übereinstimmung. Meinungsstreit unter uns war selbstverständlich, zumal Gorbatschows Politik von Glas-nost und Perestroika allen zu denken gab.

Bei uns herrschte stets eine offene Atmosphäre. Wir konnten über alles kritisch sprechen und ungehemmt Fragen zur Wirtschaftspolitik der Partei und zur Rolle der Mikroelektronik stellen. So informierte ich Alexander Schalck in persönlichen Gesprächen mehrfach über die Stimmung in meinem Arbeitskollektiv.
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Völlig neu: Ein Mitarbeiter tritt aus der Partei aus.

Stets hatte Schalck Verständnis für die Fragen meiner Mitarbeiter. Beispielsweise war Anfang 1989 ein ehemaliger und langjähriger enger Mitarbeiter von mir, der invalidisiert war und nur noch stundenweise bei uns arbeitete, aus der SED ausgetreten.

Er konnte die Wirtschaftspolitik der SED-Führung nicht mehr mittragen, wie er es selbst formulierte. Da ich mit ihm persönlich langjährig befreundet war, er stets mein uneingeschränktes Vertrauen besaß und mit mir seit Anfang der 19sechziger Jahre an wichtigen Embargolinien gearbeitet hatte, versuchte ich, ihn davon zu überzeugen, seinen Entschluß rückgängig zu machen. - Vergebens.

Von solchen Personalfragen mußte ich natürlich Schalck informieren. Doch er stellte mir nur die Frage: „Was machst du nun?" - Ich selbst verstand zwar den Entschluß meines Mitarbeiters und Freundes nicht, hatte aber Vertrauen in seine Mitarbeit und wollte das Arbeitsverhältnis nicht lösen.

Schalck bestätigte mich in meinem Entschluß: „Die Zeiten werden noch komplizierter, und wir müssen Verständnis haben, wenn nicht alle Menschen die Situation verstehen und uns bedenkenlos folgen. Du hast richtig gehandelt. Wir brauchen Geduld und dürfen die Situation nicht noch verschärfen."

Fürwahr, er kannte die wahre Lage im Lande und die Stimmung unter den Leuten.
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Der 40. Jahrestag der DDR stand vor der Tür

Scheinbar unabhängig davon spornte uns Schalck ständig zur Leistungssteigerung an, der 40. Jahrestag der DDR stand ja vor der Tür. Im August 1989 wurde von ihm die „Wettbewerbskonzeption des Bereiches Kommerzielle Koordinierung in Vorbereitung auf den XII. Parteitag der SED" erarbeitet und der Parteiführung übergeben.

Sie sah vor, im Jahr 1990 von KoKo 1.901,8 Mio. DM und 396,2 Mio. Dollar zu erwirtschaften und an den Staatshaushalt abzuführen. Zu unseren Aufgaben hieß es konkret:

  • „Zur weiteren beschleunigten Einführung und Anwendung der Schlüsseltechnologien, insbesondere des Ausbaues der eigenen mikroelektronischen Basis, werden durch den Bereich Kommerzielle Koordinierung in Fortführung der bereits übernommenen hohen Aufgaben für 1990 weitere Verpflichtungen übernommen. Das betrifft vor allem:
  • - die planmäßige Beschaffung von technologischen Spezialausrüstungen für die beginnende Massenproduktion von 256-KBit-Speicherschaltkreisen im Kombinat Mikroelektronik - ESO III -sowie für die anlaufende Pilotproduktion des 1-MBit-Speicherschaltkreises im Kombinat Carl Zeiss Jena - ZMD Dresden;
  • - den Aufbau von Kapazitäten für die Herstellung von Leiterplatten bei den Hauptverbrauchern Kombinat Robotron und dem Kombinat Automatisierungs- und Anlagenbau.
  • Es werden durch den Importhandelsbereich alle Voraussetzungen für die planmäßige Realisierung des Objektes Robotron Dresden mit der Produktionsaumahme zum 1.4. 1990 und des Objektes EAB Ber-Im mit der Aufnahme des Probebetriebes zum 15. 5.1990 geschaffen.
  • Für diese beiden Objekte erfolgt durch den Bereich Komrner-f zielle Koordinierung eine Finanzierung in Höhe von 350 Mio. DM.
  • - die Beschaffung unter Embargo stehender technologischer Spezialausrüstungen für die Erweiterung der Forschungs-, Ent-wicklungs- und Produktionskapazitäten des Mikroprozessorprogramms im Kombinat Mikroelektronik Erfurt sowie für die Fortführung der Vorhaben 32-Bit-Rechentechnik und dazugehöriger peripherer Geräte im Kombinat Robotron."

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Ich sollte den Plan für das Jahr 1990 vorbereiten

Neben dieser „Wettbewerbsinitiative" wurde auch der Plan für das Jahr 1990 vorbereitet. Ich erarbeitete den Entwurf und mußte ihn vor Schalck verteidigen. Im Ergebnis dieser „Planverteidigung" formulierte Schalck unsere Aufgabenstellung wie folgt:

„Durchsetzung sowie inhaltliche Fortschreibung der Konzeption zur Absicherung der Embargopositionen. Dabei ist an der weiteren Stabilisierung der Beschaffung, an der Erschließung neuer Beschaffungswege, der Entwicklung leistungsfähiger Formen und Methoden bei der Realisierung von Embargoobjekten unter den Bedingungen gewachsener Anforderungen aus höherem Technologieniveau, konsequent zu arbeiten."
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Von Schalck völlig ungewohnt : „Ich befehle"

Diese „Planverteidigung" fand genau am Vormittag des 6. Oktober statt. Mittags wurde ich mit allen anderen zum KoKo-Bereich gehörenden Generaldirektoren zu Schalck beordert. Irgendwie war die Atmosphäre angespannt, trotzdem ging es sachlich zu.

Der Chef selbst schätzte die in Berlin zu erwartende Lage während der Festlichkeiten zum 40. DDR-Geburtstag als „brisant" ein. Er erklärte uns, daß am Jahrestag der Republik „Störungen" zu befürchten seien. Deshalb würden nun die von KoKo früher festgelegten erweiterten Maßnahmen des Systems der Diensthabenden mit „militärischer Disziplin" umgesetzt. Erstmals benutzte dabei die Formulierung : „Ich befehle".

Stasi Chef Mielkes Fernschreiben an fast alle ...

Das System der Diensthabenden sah in der Volkswirtschaft so aus, daß in jedem Kombinat, Betrieb und Unternehmen rund um die Uhr ein Leitungsmitglied in Bereitschaft stand, um bei besonderen Vorkommnissen die notwendigen Maßnahmen einleiten und das übergeordnete Organ informieren zu können. Das begann bei Produktionsstörungen oder Havarien und schloß auch notwendige Maßnahmen in Krisensituationen ein.

Das erweiterte Sicherheitssystem zum 40. Jahrestag der DDR erläuterte uns der Leiter der Abteilung Kader und Sicherheit des Bereiches KoKo, Karl Meier, seines Zeichens zugleich OibE und Oberst des MfS.

Ab sofort wurde bis auf Widerruf festgelegt, daß der Diensthabende im 24-stündigen Wechsel fest im jeweiligen Unternehmen stationiert ist, jeder nachgeordnete Leiter ständig in der Wohnung erreichbar und alarmierbar und im Bedarfsfall die gesamte Belegschaft einsetzbar sein muß. Regelmäßig sollte der Diensthabende des jeweiligen Unternehmens dem übergeordneten Diensthabenden von KoKo über die Lage im Betrieb berichten.

Ausgangspunkt für diesen Alarmzustand und für Schalcks „Befehl" war offensichtlich ein Fernschreiben, das Mielke am 5. Oktober 1989 unter der WS-Nummer 0008, MfS Nr. 69/89, an alle Leiter der Diensteinheiten des MfS geschickt hatte und in dem es hieß:

„Die Wirksamkeit aller Vorkehrungen und Maßnahmen zur Sicherung der Veranstaltungen sind mit dem Ziel des rechtzeitigen Erkennens jeglicher provokatorischer-demonstrativer Handlungen, der Formierung und Ansammlung feindlich-negativer Kräfte nochmals gründlich zu überprüfen. Feindlich negative Aktivitäten sind mit allen Mitteln entschlossen zu unterbinden. Es ist zu prüfen, in wieweit die bereits eingeleiteten Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der politisch-operativen Lage tatsächlich ausreichend sind. Ebenfalls ist nochmals die Bereitstellung aller Kräfte zu überprüfen. Es sind weitere Reservekräfte bereitzustellen."
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Was ging hier vor ?

Sollten wir zu diesen Reservekräften gehören? Jedenfalls wurden die Festlegungen konsequent umgesetzt. Anderes waren wir nicht gewohnt. Die Parteidisziplin in Frage zu stellen, wäre uns nie in den Sinn gekommen.

Die Diensthabenden wurden in meinem Arbeitszimmer einquartiert, hier konnten sie wenigstens ordentlich arbeiten und den Umständen entsprechend die Zeit verbringen. Den Dienst am Jahrestag der Republik übernahm ich selbst.
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Der 7. Oktober

An diesem 7. Oktober glich das Haus der Elektroindustrie (HdE), direkt am Ostberliner Alexanderplatz gelegen, mit seiner Betriebsgaststätte im Anbau, einem Heerlager. Hier befand sich ein Einsatz-Zentrum der Sicherheitskräfte, von den „Kampfgruppen der Arbeiterklasse" über Einheiten der Volkspolizei bis zu den Einsatzkräften der Staatssicherheit. Zudem konnte man hinter den großen Fensterfronten des HdE vorzügliche Beobachtungspunkte einrichten.
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Niedergeknüppelt - wie immer im Sozialismus

Aus meinem Arbeitszimmer hatte ich den besten Blick auf den Alexanderplatz und die vom Palast der Republik kommende Karl-Liebknecht-Straße. So konnte ich die nach dem Festakt im Palast der Republik beginnende große Protestdemonstration verfolgen, die anschließend von Polizei und Stasi niedergeknüppelt wurde. Bis in die Nachtstunden patrouillierten Wasserwerfer über den Alexanderplatz. Im Einsatzzentrum herrschten Hektik und Unruhe. Entgeistert verfolgte ich das makabre Szenario.

Weder am 7. Oktober noch in den Folgetagen, an denen der Bereitschaftsdienst fortgesetzt werden mußte, hatten wir „besondere Vorkommnisse" zu melden. Die Arbeit ging bei uns wie gewohnt weiter, aber jeder spürte, daß noch mehr in der Luft lag.

Am 9. Oktober fand in Leipzig eine Demo statt - gänzlich anders

Am 9. Oktober fand in Leipzig die große Montagsdemonstration mit über 70.000 Menschen statt. Was landesweit befürchtet wurde, trat nicht ein - die in Bereitschaft befindlichen Sicherheitskräfte kamen nicht zum Einsatz. Die Demonstration verlief friedlich, Polizei war kaum zu sehen. Am Ende der Demonstration wurde ein Appell zum friedlichen Dialog verlesen.

Der Umschwung von der Niederknüppelung der Demonstrationen in Berlin am 7. und 8. Oktober bis zum friedlichen Verlauf der Leipziger Montagsdemo war eine wichtige Zäsur für den weiteren Verlauf der Ereignisse. Das, was später eine „sanfte Revolution" genannt werden sollte, nahm seinen Lauf.

Ich bekam Zweifel - nicht nur an meiner notwendigen Kur

Natürlich plagten mich in jener unruhigen Zeit Zweifel, ob ich ausgerechnet in diesen Tagen meine seit langem geplante Kur antreten sollte. Mit meinem Chef, Alexander Schalck, konnte ich nicht sprechen, er hatte erstmals keine Zeit für mich.

Dieter Paul empfahl mir in seiner Vertretung, die Reise nach Bad Elster anzutreten, aber ständigen Kontakt zu KoKo in Berlin zu halten.
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Die Nachrichten aus Berlin verhießen gleichfalls wenig Gutes.

Doch in dem Kurort erwartete mich alles andere als Ruhe und Beschaulichkeit. Im Gegenteil, die Realität holte mich ein. Hier befand ich mich nicht mehr unter Gleichgesinnten, abgeschirmt vom DDR-Alltag und dem Denken seiner Menschen. Von den Anwesenden machte kaum jemand einen Hehl aus einer Sympathie für die Demonstranten in Leipzig und die Bürgerbewegung um das Neue Forum.

Mit meinem Parteiabzeichen am Rockaufschlag konnte ich mich kaum noch öffentlich sehen lassen. In allen Kureinrichtungen gab es nur noch ein Thema: die Montagsdemos in Leipzig und die Forderung nach Freiheit und Demokratie in der DDR. Auch in Bad Elster demonstrierte erstmals die Bevölkerung, und die Kurgäste nahmen an den Protestkundgebungen teil. Die Nachrichten aus Berlin verhießen gleichfalls wenig Gutes.

Ich hatte keine Ruhe mehr und brach kurzentschlossen meine Kur ab.
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Merkwürdig - Schalck hatte wieder keine Zeit für mich .......

Sofort meldete ich mich im Bereich KoKo zurück, aber Schalck hatte wiederum keine Zeit für mich. Er war nur noch in die „große Politik" eingebunden. Als Honecker und Mittag am 18. Oktober entmachtet wurden, wurde Schalck zwar unter der Hand als einer der möglichen Nachfolger von Mittag gehandelt, aber nicht in die Funktion des Wirtschaftssekretärs des ZK der SED eingesetzt.

Wir arbeiteten trotz aller Veränderungen und der weitergehenden und immer größer werdenden Protestdemonstrationen im ganzen Land weiter. Und was im nachhinein vielleicht verwundern mag, wir konnten uns dabei auch weiterhin auf die Loyalität unserer Geschäftspartner im Westen stützen.

Nicht ein einziger ist in dieser schwierigen Zeit abgesprungen. Gewiß, dies tat keiner aus purer Liebe zur DDR. Wohl aber ging es ihnen um die lukrativen Geschäfte, um das viele Geld, das bei einem etwaigen Ende der DDR nicht mehr so reichlich in ihre Taschen fließen würde.
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Jetzt ging es Schlag auf Schlag

Innenpolitisch folgte Schritt auf Schritt: am 4. November die bisher größte Massendemonstration in Ostberlin; am 7. November der Rücktritt der DDR-Regierung und die Wahl Modrows zum neuen Ministerpräsidenten; am 8. November der geschlossene Rücktritt des SED-Politbüros; am 9. November die überraschende Öffnung der Grenzen zur Bundesrepublik und zu Westberlin; am 13. November die Sondersitzung der Volkskammer und der Einsatz von Volkskammerausschüssen zur Aufdeckung von Amtsmißbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung.

Die Bürgerbewegung wurde zu einer starken politischen Kraft in diesem Prozeß der Selbstreinigung, der Runde Tisch nahm seine Arbeit auf.

Tumulte in der DDR-Volkskammer - als die Korruption raus kam

In der DDR-Volkskammer kam es am 2. Dezember zu tumultartigen Szenen, als die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses bekannt wurden, die die verkommene Moral der abgelösten Staats- und Parteiführung bloßlegten.

In den Folgetagen kam es zu ersten Festnahmen, darunter auch zur Verhaftung von Günter Mittag. Staatssekretär Schalck-Golodkowski wurde beschuldigt, die SED-Prominenz mit Luxusgütem versorgt, die Staatssicherheit finanziert, Waffenhandel sowie Schmuggel mit Alkohol, Parfüm und Textilien betrieben zu haben. Die Ereignisse überschlugen sich.
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Der Bereich Kommerzielle Koordinierung im Visier

Der Bereich Kommerzielle Koordinierung geriet immer stärker ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Die gewendeten Medien hatten an dieser Mobilmachung einen großen Anteil. Nun begannen auch in der SED-Parteiorganisation des Außenhandels die offenen Auseinandersetzungen mit der Arbeit von KoKo und seines Chefs.

Sogar der Minister für Außenhandel, Gerhard Beil, begab sich auf Konfrontationskurs zu Schalck: Dieser müsse vor die Volkskammer zitiert und von ihr zur Rechenschaft gezogen werden.

Wo die Partei voranging, wollte der FDGB nicht abseits stehen, So forderte auch die Gewerkschaftsorganisation des Außenhandels in einem Schreiben an die Gewerkschaftszeitung „Tribüne" schnellste und rückhaltlose Aufklärung aller dubiosen Machenschaften, die „im Namen des Außenhandels zum Nutzen einer korrupten Führungsclique begangen wurden, insbesondere der Vorgänge um den ehemaligen Leiter des Bereiches KoKo und weiterer Personen in seinem Umfeld.

Wir fordern das, weil die überwiegende Mehrheit der 22.000 Werktätigen, darunter auch Mitarbeiter von KoKO-Betrieben, mit ehrlicher und qualifizierter Arbeit zugunsten des Staatshaushaltes bzw. der Versorgung der Industrie und der Bevölkerung sehr durchschnittliche Gehälter ausschließlich in Mark der DDR verdienten."

Jetzt wurde es Ernst für uns

Der Klageruf stieß nicht auf tauben Ohren. Vertreter der neuen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien wendeten sich mit einen Aufruf an alle Bürger der DDR und besonders an die Mitarbeiter der zum Bereich Kommerzielle Koordinierung gehörenden Betriebe:

„Wir haben erfahren, daß angesichts der Staatskrise

- wichtige Finanzwerte und Sachwerte ins Ausland verbracht werden
- wesentliche Akten und Daten vernichtet werden
- verantwortliche Personen sich ins Ausland abzusetzen versuchen.

Diese Absatzbewegung und Verschleierungsversuche müssen verhindert werden!

Ihr wißt, in welchen Betrieben, Banken und Institutionen die Möglichkeiten zu solchen Praktiken gegeben sind.

Wir wenden uns insbesondere an die Mitarbeiter der zum Bereich Kommerzielle Koordinierung gehörenden Betriebe.

Ruft Belegschaftsversammlungen zusammen, die Kontrollgrup-pen für die Verhinderung solcher Machenschaften einsetzen.
Informiert die Deutsche Volkspolizei und die Öffentlichkeit."
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Die Saat ging jetzt blitzschnell auf

Die Appelle fielen auf fruchtbaren Boden, die Saat ging bei diesem Tauwetter blitzschnell auf. Auch wir gerieten ins Schußfeld. In den Partei- und Belegschaftsversammlungen des AHB Elektronik wurden unser Handelsbereich 4 und seine Arbeit angegriffen und eine Offenlegung unserer Tätigkeit gefordert.

Gerade das mußte ich freilich verhindern, schon im Interesse der Sicherheit unserer Mitarbeiter und Lieferanten und der Fortsetzung unserer Arbeit. Der Generaldirektor des AHB, Kurt Rippich, distanzierte sich öffentlich von uns und forderte die Offenlegung unserer Arbeit und unserer Zugehörigkeit zum KoKo-Berich sowie den Ausschluß unserer Genossen aus der Parteiorganisation des AHB.
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Die Ratten verlassn das sinkende Schiff ....

In jenen Tagen und Wochen hatte ich mehrfach ein Bild vor Augen : "Auf hoher See springen Ratten vom sinkenden Schiff ..."

Nun wurde auch endlich ein alter DDR-Witz in der Realität umgesetzt - "keiner weiß, was zu tun ist, aber alle machen mit".

Das „bewährte Prinzip des demokratischen Zentralismus" setzte zur Bauchlandung an: „Oben" traute man sich keine Entscheidungen mehr zu, „unten" wartete man vergeblich darauf. Und wie sollte anders sein - von KoKo erfolgte auch keinerlei Anleitung und Kontrolle mehr.

Schalck war nach wie vor für mich nicht mehr zu sprechen. Dieter Paul und die anderen leitenden Mitarbeiter waren völlig hilflos und konnten nicht sagen, wie es weitergehen sollte. Wer es jahre- und jahrzehntelang gewohnt war, auf Direktiven, Order und Anweisungen von oben zu warten, dem fielen nun selbständige Entscheidungen schwer. - Die späte Rache der Kommando-Wirtschaft.
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Wie sollte es jetzt weitergehen ?

Dieter Paul beauftragte mich Anfang November, eigenständig Vorschläge zur weiteren Tätigkeit unseres Bereichs unter den veränderten Bedingungen zu erarbeiten. Ein paar Tage später, Mitte November, hatte ich das Papier fertig: „Festlegungen zur Wahrnehmung außenwirtschaftlicher Aufgaben für schwerbeschaffbare (Embargo) Ausrüstungen und Anlagen".

Ich schlug u. a. vor, die Aufgaben unseres Bereichs schrittweise zu reduzieren und später aufzulösen. Meine Mühe war das dafür beschriebene Papier nicht wert. Eine Entscheidung zu diesem Vorschlag gab es nicht mehr. Makulatur.

Nur gut, daß wir in unserem Bereich schon immer an selbständige Arbeit gewohnt waren. Ungeachtet dessen setzten wir unsere Arbeit fort, die Mitarbeiter des Bereichs behielten alle einen klaren Kopf.

Unbeeindruckt entwickelten wir sogar einige Varianten, um nach einer möglichen Ausgliederung des Bereichs aus dem Außenhandelsbetrieb Elektronik die Arbeit fortzusetzen. So war der Generaldirektor des Kombinats Robotron, Fritz Wokurka, an der Übernahme von uns interessiert.

Alle Überlegungen liefen natürlich unter der Annahme, daß die DDR reformiert wird, weiter existiert und das Embargo des Westens gegen uns aufrechterhalten bleibt.
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Die Stasi wird zum 17. November 1989 aufgelöst.

Mein Kontakt zum MfS bestand zwar unverändert weiter, aber auch bei den verantwortlichen Stasi-Offizieren waren Verunsicherung und Hilflosigkeit zu spuren.

Die neugebildete Regierung unter Hans Modrow gab am 17. November die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit und seine Ersetzung durch ein verkleinertes Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) bekannt.

Leiter des AfNS wurde Generalleutnant Schwanitz, bisher Chef der MfS-Bezirksverwaltung Berlin und Stellvertreter von Mielke.

Zahlreiche Führungspositionen des AfNS wurden neu besetzt Mein Führungsoffizier, Artur Wenzel, wurde von Treff zu Treff unsicherer und nervöser. Die Zusammenarbeit mit ihm konzentrierte sich jetzt vor allem darauf, die Sicherheit unserer Arbeit, der Mitarbeiter und unserer Geschäftspartner zu gewährleisten.
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Aufforderung zum sofortigen Aufsuchen der KoKo-Zentrale

Am Sonnabend, dem 2. Dezember 1989, fuhr ich frühmorgens nach Marxwalde, dem heutigen Neuhardenberg, im Nordosten von Berlin, wo mein Sohn seinen Wehrdienst in der Regierungsstaffel der Luftstreitkräfte der NVA leistete.

Als ich mittags nach Berlin zurückkam, lag bereits eine telefonische Aufforderung zum sofortigen Aufsuchen der KoKo-Zentrale in der Wallstraße vor. Dort eingetroffen, fand ich die leitenden KoKo-Mitarbeiter und weitere Leitungskader von KoKo-Unternehmen vor. In der ganzen Zentrale herrschte Aufregung und Durcheinander, ohne daß jemand wußte, warum wir gerufen wurden und was vor sich ging. Mit Siegfried Stöckert harrte ich gemeinsam in seinem Zimmer geduldig des Kommenden.

Als sich auch nach einigen Stunden sinnloser Warterei immer noch nichts getan hatte, entschloß ich mich, nach Hause zu gehen. Ich wohnte nur eine Ecke von der Wallstraße entfernt und konnte bei Notwendigkeit sofort wieder vor Ort sein. An diesem Tag bestand aber offensichtlich kein Bedarf mehr, ich wurde nicht wieder gerufen.

Schalck hat in der Nacht zum Sonnabend die DDR verlassen

Einen Tag später, am Sonntag, wurde ich gegen Mittag von meinem Führungsoffizier zu einem sofortigen Treff in meinem Arbeitszimmer ins Haus der Elektroindustrie beordert. Wenzel, sonst immer sich überlegen gebend, sehr souverän und selbstsicher mit einem Hang zum Theatralischen, war aufgeregt und völlig durcheinander.

Konsterniert eröffnete er mir, daß Schalck in der Nacht zum Sonnabend die DDR in Richtung Westen verlassen habe.

Erst später konnte ich den Aussagen von Schalck vor dem Untersuchungsausschuß des Bundestages entnehmen, daß in den Morgenstunden dieses Sonntags im ZK-Gebäude in Vorbereitung auf das am gleichen Tage stattfindenden ZK-Plenum eine Krisensitzung stattfand, die sich mit der Flucht von Schalck befaßt hatte.

Schalck dazu später vor dem Untersuchungsausschuß des Bundestags:

  • „.. am 3.12. früh wurde Manfred Seidel ins ZK bestellt zu Hans Modrow, Markus Wolf - die waren ja alle da - Gerhard Beil, Schwanitz, Großmann. Das war eine interessante Gesellschaft."


Aber Wenzel, mein Freund und Führungsoffizier, meinte:

  • „Dein Chef ist kein Feind. Ich stehe weiter zu Schalck, kann aber nichts für ihn tun. Auch für dich und deinen Bereich kann ich jetzt nichts mehr tun. Wir werden euch aber schützen, so gut wie wir das jetzt noch können. Du solltest mit deinen engsten Mitarbeitern die Verbindungen zu eueren treuesten Geschäftspartnern nutzen, um mit ihnen gemeinsam Überlebenskonzepte zu entwickeln. Vielleicht könnt ihr gemeinsam Finnen gründen und euere Erfahrungen einbringen. Der Handelsbereich 4 selbst kann nicht überleben."


Ich konnte nicht wissen, daß es mein letztes Gespräch mit Artur Wenzel sein sollte.
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Rückzugsgefechte

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Die Auflösung der HA XVIII/8

Die Schraube drehte sich weiter. Die Bürger der DDR wollten sich nicht mehr mit der Erfüllung von Minimalforderungen abspeisen lassen; die Bürgerbewegung gab sich nicht mit der Auflösung des MfS zufrieden, sondern wollte auch seine Nachfolgeorganisation, das Amt für Nationale Sicherheit, beseitigt wissen. Im Land fanden dazu bereits erste Protestdemonstrationen statt. Wenzels Abteilung XVIII/8 fühlte sich mitten im Haus der Elektroindustrie nicht mehr sicher.

Am Montag, dem 4. Dezember, in den frühen Nachmittagsstunden, suchte mich Oberleutnant Uwe Pilgram in meinem Büro auf. Er war Mitarbeiter in Wenzels Abteilung und neben Major Gerhard Gesang für unseren Handelsbereich verantwortlich.

Pilgram übermittelte mir den Auftrag seines Chefs: Die Abteilung sollte in ein anderes Objekt ausquartiert werden, und schon an diesem Abend wolle man mit dem Abtransport der Arbeitsunterlagen beginnen. Da aber die Fahrzeuge von Wenzels Abteilung nicht ausreichten und unser Handelsbereich über einen eigenen Fuhrpark verfügte, wurde ich aufgefordert, Autos bereitzustellen.

Selbstverständlich verweigerte ich unsere Hilfe nicht und übergab Pilgram Fahrzeugpapiere und Schlüssel. Die Rückgabe vereinbarten wir für den nächsten Morgen. In den paar Stunden dazwischen sollte allerdings noch viel passieren...
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... nicht in der DDR, sondern auf einem fernen Planeten ...

Nach Dienstschluß hatten wir wie an jedem ersten Montag eines Monats unsere Mitgliederversammlung der SED-Parteiorganisation, die in unseren Arbeitsräumen im HdE stattfand. Gegenstand der Versammlung war nicht etwa die angespannte innerpolitische Lage in der DDR, denn dazu gab es ja keine Direktive der Partei, sondern Fragen unserer weiteren sachlichen Arbeit.

Es war so, als lebten wir nicht in der DDR, sondern auf einem fernen Planeten. Die Atmosphäre in dieser Versammlung war keineswegs angespannt wie zum gleichen Zeitpunkt draußen auf dem Alexanderplatz.

Nach dem Ende unserer Versammlung, gegen 19.00 Uhr, verließ ich das Gebäude. Zum gleichen Zeitpunkt fand auf dem Alexanderplatz eine Demo statt, die wie üblich friedlich verlief.

Als ich am nächsten Morgen gegen 6.45 Uhr wieder das HdE betrat, stellte ich an den Eingängen verstärkte Sicherheitskontrollen des Betriebsschutzes fest. Das Haus glich einem Bienenstock, viele Mitarbeiter huschten aufgeregt über die Gänge, Gerüchte kursierten. Ich erfuhr, daß einige meiner Mitarbeiter, die am Vorabend nach mir das HdE verlassen wollten, von einer aufgebrachten Menschenmenge daran gehindert wurden. Erst nachdem sie sich ausweisen konnten, durften sie passieren.
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Verhinderung der klammheimlichen Auflösung der MfS-Dienststelle

Zwischenzeitlich verbreiteten die Medien in diesen frühen Morgenstunden erste Meldungen über die Vorgänge am vorangegangenen Abend. Demnach hätte es sich um eine Aktion der Bürgerbewegung gehandelt, um die klammheimliche Auflösung der MfS-Dienststelle, die sich im HdE befunden hätte, zu verhindern. Die Rede war auch von der Verhaftung eines Mannes, der angeblich einen großen Geldbetrag aus dem Gebäude schleppen wollte. Abermals überschlugen sich die Ereignisse.

Ich hatte kaum mein Büro betreten, da versuchte ein zur Bürgerbewegung gehörender Mitarbeiter der Hausverwaltung in mein Arbeitszimmer vorzudringen. Sein Vorwand, die Heizungsanlage kontrollieren zu wollen, schien jedoch so dürftig, daß ich ihn am Betreten des gesamten Sperrbereiches hindern konnte. Darauhin wurde ein diensteifriger Volkspolizist, uniformiert und bewaffnet,  bei mir vorstellig. Er käme im Auftrag der Militärstaatsanwaltschaft und wollte wissen, wo unsere Arbeitsunterlagen, vor allem die Verschlußsachen gelagert würden.

Ich fuhrt ihn zu unserer VS-Stelle, die sofort versiegelt und von ihm bewacht wurde. Der Hüter der neuen Gesetzlichkeit kündigte noch das Erscheinen der Militär-Staatsanwaltschaft sowie weitere „Maßnahmen" an.
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Es gab keine Anweisung zur Vernichtung von Arbeitsunterlagen

Mit meinen Stellvertretern und Abteilungsleitern stimmte ich dann unser weiteres Verhalten ab. Für die Mitarbeiter galt es, in Ruhe weiterzuarbeiten, was natürlich unter diesen Bedingungen sehr schwer war. Wir als verantwortliche Leiter mußten umgehend Sofortmaßnahmen einleiten, um unsere Mitarbeiter, Geschäftspartner und die weitere ungestörte Abwicklung der Verträge zu sichern.

Die Vernichtung von Arbeitsunterlagen wurde von mir nicht ausdrücklich angewiesen, schon weil es uns von der Volkspolizei streng verboten worden war. Aber meine nachgeordneten Leiter wußten natürlich selbst, was zu tun war, und ich konnte und wollte natürlich nicht unter jeden Schreibtisch kriechen oder sämtliche Papierkörbe durchsuchen.

Zudem ist zu vermuten, daß die Mitarbeiter, die als IM für das MfS arbeiteten, auf eigene Faust versuchten, ihre Unterlagen von eventuell vorhandenen Hinweisen auf eine Verbindung zum MfS zu bereinigen. Jedenfalls qualmten bei uns weder die Öfen noch liefen die Reißwölfe heiß.

Die Militärstaatsanwaltschaft ließ sich auch nicht mehr blicken, der Sicherungsposten vor der VS-Stelle wurde wieder abgezogen. Man ließ uns für den Rest des Tages in Ruhe.
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Die Vorgänge am 4. Dezember 1989

Was war aber wirklich in der Nacht zuvor geschehen? Das geht aus zwei Protokollen der Zeugenvernehmungen durch die Kriminalpolizei hervor.

Wolfgang W., Ingenieur für Wärmetechnik in unserem Haus, wurde am 4. Dezember gegen 18.15 Uhr in seiner Wohnung durch einen Mitarbeiter des Klimadienstes im HdE in Kenntnis gesetzt, daß bei der Betriebswache eine schriftliche Weisung des Leiters Sicherheit des HdE vorläge, wonach die üblichen Kontrollgänge der Betnebswache im gesamten Haus, einschließlich der Außenanlagen, in der Zeit von 18.00 Uhr bis 6.00 Uhr des nächsten Tages einzustellen seien. Außerdem sollte die Türsicherungsschleife der Raumschutzanlage für den Hinterausgang im dritten Segment des Erdgeschosses abgeschaltet werden.

Wolfgang W. wörtlich:
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  • „Weil ich bereits in der Presse und den anderen Medien mitbekommen hatte, daß alle aufgefordert sind, auf mögliche unlautere Dinge in ihren Arbeitsbereichen zu achten und dem was mir nun telefonisch bekannt geworden war, habe ich schon etwas Unsauberes vermutet.
  • Ich habe aus diesem Grunde sofort versucht, den Institutsdirektor (u. a. auch für den Betriebsschutz im HdE verantwortlich - G. R.) zu Hause telefonisch zu erreichen, was mir jedoch nicht gelungen ist, jedenfalls nicht sofort. Aus diesem Grund habe ich gegen 18.30 Uhr das Kontakttelefon des Neuen Forums telefonisch gebeten, mir die Telefonnummern vom Büro des Generalstaatsanwaltes sowie vom Bezirksstaatsanwalt Berlin-Mitte und der Untersuchungskommission zur Verfügung zu stellen, was auch erfolgte.
  • Diesen Mitarbeitern vom Neuen Forum habe ich den Sachverhalt auch kurz mitgeteilt. Ich habe sie auch aufgefordert, ebenfalls sofort in dieser Sache wirksam zu werden, da ich dadurch eine Möglichkeit sah, hier Schlimmeres zu verhindern und Schaden abzuwenden. Dann habe ich sofort telefonisch das Büro des Generalstaatsanwaltes in Kenntnis gesetzt. Weiter habe ich den Rechtsanwalt Lothar Franz, Mitarbeiter in der Untersuchungskommission, ebenfalls telefonisch in Kenntnis gesetzt.
  • Gegen 18.45 Uhr habe ich meinen Stellvertreter, den Koll. Dieter Garbe zu Hause angerufen. Da er in der Nähe vom HdE wohnt, sollte er sofort zur Arbeitsstelle gehen, um den Kollegen Berg vor Ort zu unterstützen.
  • Gegen 19.00 Uhr habe ich dann noch den Chef vom Dienst des VEB Kombinat Automatisierung und Anlagenbau (Kaab) sowie den Institutsdirektor, Koll. Müller, informiert. Beide haben mich aufgefordert, daß ich feststellen soll, wer diese Weisung, welche bei der Betriebswache vorlag, ausgestellt hat. Nach erneuter Rücksprache mit der Betriebswache wurde mir dort mitgeteilt, daß diese Weisung von der Abteilung Sicherheit des Instituts für Rationalisierung ausgefertigt und im Auftrage des Koll. Brunn, Abteilungsleiter Sicherheit, durch die Kollegin Wolke unterschrieben wurde. Diese Angaben teilte ich dann sofort wieder dem Institutsdirektor und dem Chef vom Dienst des Kaab mit. Beiden war diese Weisung nicht bekannt.
  • Ich habe dann gegen 19.10 Uhr die Betriebswache telefonisch angewiesen, die Sicherheitsschleife für die Hintertür in Betrieb zu nehmen und diesen Ausgang so zu sichern, daß niemand rein oder raus kann. Gegen 19.15 wurde der Chef vom Dienst des Kaab von dieser meiner Weisung unterrichtet. Er befürwortete diese Festlegung. Gegen 20.20 Uhr teilte mir die Betriebswache telefonisch mit, daß der Institutsdirektor im Hause, auf der Arbeitsstelle, sei.
  • Einige Minuten später gelang es mir dann telefonisch, mit dem Institutsdirektor zu sprechen. Er teilte mir mit, daß ca. fünfzehn bis zwanzig Personen offiziell mit seiner Genehmigung, das Haus verlassen konnten. In diesem Zusammenhang muß ich hier auch sagen, daß zu dieser Zeit im Haus noch eine Versammlung war. Der Institutsdirektor sagte mir weiter, daß verhindert wird, daß Unbefugte das Haus betreten. Vermutlich war das im Zusammenhang mit Leuten von der Demonstration am Alexanderplatz zu sehen.
  • Etwa gegen 22.00 Uhr erhielt ich zu Haus einen Anruf von der Kriminalpolizei, daß man im Zusammenhang mit diesen Ereignissen möglicherweise noch mal auf mich zukommen wird. Danach gab es durch meine Person keine Kontakte mehr zum HdE ...


Dieses Schriftstück, welches bei der Betriebswache hinterlegt wurde, sei laut Kollegen Brunn in üblicher Zusammenarbeit mit den Kollegen aus dem Anbau gefertigt worden. Mir ist bekannt, daß in diesem Anbau Mitarbeiter von Struktureinheiten des MfS sitzen ..."
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Noch eine Zeugin Ingrid H. sagt aus

Noch in der Nacht des Geschehens, um 23.30 Uhr, wurde die Lehrerin Ingrid H. als Zeugin zu den Vorgängen im und um das HdE vernommen:
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  • „Ich nahm am heutigen Abend an einer Demonstration, welche am Alex war, teil und wollte eigentlich nach Hause gehen.
  • Auf dieser Demo wurde durch einen Redner darauf hingewiesen, daß aus einem Gebäude, welches sich neben dem Reisbüro Nähe der Keibelstraße befindet, irgendwelche Akten ausgelagert werden. Es sollen nach Auskunft des Redners Akten von der Staatssicherheit sein, welche zum jetzigen Zeitpunkt entfernt werden sollen. Wir sollten darauf achten.
  • Die Demo war eigentlich zu Ende, und ich wollte nach Hause. Ich schloß mich dann mehreren Leuten an und, da ich sowieso in die Richtung lief, kamen wir dann zum Reisebüro. In einer Gruppe von ca. 20 - 30 liefen wir einmal um das Objekt der Keibelstraße und der anderen Institutionen herum. Wir trafen dann wieder auf der Höhe des Reisebüros ein.
  • Eine andere Gruppe lief diesen Weg entgegengesetzt. Diese Gruppe war zu diesem Zeitpunkt auf der anderen Seite des großen Tores, welches dem Reisebüro gegenüber liegt. Wir gingen deshalb zu diesem Tor, weil wir die Information bekommen hatten, daß sich im Gebäude der Export/Import (gemeint ist das HdE - G. R.) Leute befinden, die dort nicht hingehören. Wir wurden auf weitere Ausgange dieses Gebäudes aufmerksam gemacht. Deshalb gingen wir zu diesem Tor. Andere stellten sich an die anderen Ausgänge und einige begaben sich wie gesagt zu diesem Tor. Ich selbst stand am Haupteingang von Import/Export.
  • Ein Polizist kam aus dem Gebäude der Export/Import und sagte zu einem anderen Polizisten: Lauf mal rum. Der angesprochene Polizist lief los, ich und andere Leute liefen hinterher. Als ich um die Ecke des Foto-Optik-Ladens kam, sah ich eine größere Menschenansammlung vor dem großen Tor, welches dem Reisebüro gegenüber ist.
  • Ob es nun genau zu dem Zeitpunkt war, als ich dort um die Ecke kam oder einige Schritte weiter, kann ich jetzt nicht mehr genau sagen. Es waren zu diesem Zeitpunkt ca. 4 - 5 Leute. Ich sah dann, wie mehrere eine Person festhielten und an ihm zerrten. Dieser Mann war in geduckter Haltung vor diesem Tor. Diese Person hatte sich selbst aufgerichtet und wehrte sich stark, um sich dem Festhalten durch die Polizei zu entziehen. Dies gelang ihm dann auch.
  • Durch die nun größere Ansammlung von den Leuten gelang es nun aber, dieser Person habhaft zu werden. Auch jetzt versuchte er wieder wegzukommen. Er rief sehr laut, er will den Rechtsanwalt Gysi sprechen. Diese Person hatte in seiner rechten Hand eine dicke Tasche und meiner Meinung nach noch eine schmale Tasche. Bei der schmalen Tasche kann es sich um einen Aktenkoffer gehandelt haben. Er weigerte sich, die Taschen, die er bei sich trug, an die Polizisten auszuhändigen.
  • Es kam dann ein Polizeiauto, und dort mußte der Mann einsteigen. Auf Drängen der anwesenden Leute wurde dann ein Bürger doch noch mit dem Polizeiauto mitgenommen, was vorher verweigert wurde.
  • Besser gesagt, die Polizisten wollten keinen mitnehmen."

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Bei den Stasi-Mitarbeitern der HA XVIII/8 gab es Hektik und Chaos

In der Tat müssen in diesen Stunden in meiner Arbeitsstelle, dem HdE, ziemlich viel Aufregung und ein großes Durcheinander geherrscht haben. Besonders bei den Stasi-Mitarbeitern der HA XVIII/8, die sich in ihren Diensträumen aufhielten, gab es Hektik und Chaos. Was Oberstleutnant Fechner, Wenzels Stellvertreter, in einer späteren Aussage als „planmäßige Aufräumungsarbeiten bezüglich eines bevorstehenden Umzuges in das Amt für Nationale Sicherheit" beschrieb, war wohl nicht mehr als eine überstürzte Fluchtvorbereitung.

Zum geordneten Rückzug sollte es freilich nicht mehr kommen. Kripo, Staatsanwaltschaft, Neues Forum und ein Journalist der Berliner Zeitung nahmen die Diensträume in Beschlag, um „Verschleierungshandlungen" zu unterbinden.

Die Zimmer wurden dann versiegelt, die Stasi-Mitarbeiter mußten die Dienststelle verlassen. Der Staatsanwalt vertrat die Auffassung, daß es erforderlich sei, die vorhandenen Unterlagen genau zu prüfen, da Hinweise auf eine ungesetzliche Arbeitsweise dieser Dienststelle vorliegen würden. Die Polizei übernahm die Sicherung des Objekts.
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in Protokoll der Kripo vom 5. Dezember 1989

Die späteren Vorgänge schildert im trockenen Amtsdeutsch ein Protokoll der Kripo vom 5. Dezember 1989

„Bei Eintreffen auf der Volkspolizei-Inspektion Berlin-Mitte wurde dem Staatsanwalt mitgeteilt, daß durch Bürger und Angehörige der VP der Angehörige des Amtes für Nationale Sicherheit Wenzel mit zwei Handgepäckstücken zugeführt worden war. Bei der Besichtigung der Handgepäckstücke wurde deutlich, daß in einem dieser Stücke, einem Aktenkoffer, insgesamt ca. 150.000 Mark der DDR sowie ca. 750.000 DM/DBB befanden. Da hier der Verdacht eines Devisenvergehens vorlag, wurde die weitere Bearbeitung durch den Militärstaatsanwalt übernommen."

Verständlich, daß in den folgenden Tagen fast alle deutsche Medien die Story von dem „Mann mit zwei Koffern" begierig aufgriffen. Das blieb natürlich nicht ohne Einfluß auf das erste offizielle Zusammentreffen des Runden Tischs, der am 7. Dezember als vielleicht spektakulärsten Beschluß, den „Appell zur Auflösung der Staatssicherheit unter ziviler Kontrolle" verabschiedete.

Doch der Mann mit den Koffern, MfS-Oberst Artur Wenzel, mein Führungsoffizier, erfuhr davon nichts mehr.
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