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Begleittext einer Rückschau - "Über den deutschen Schlager"

Diese Biografie und historische Aufarbeitung des deutschen Schlagers wurde in 1978 von der Journalistin Monika Sperr geschrieben. Frau Sperr beschreibt in ihrem Vorwort ihre Sichtweise der Geschichte und der Ereignisse aus dem Blickwinkel des Arbeitermillieus. Aus Sicht des Rezensenten ist die gesellschaftspolitische Färbung mancher Absätze etwas zu einseitig und öfter die Tatsachen verfälschend. Diese Biografie sollte mit Bedacht und auch nachdenklich gelesen werden.

Überhaupt sollte man zum Vergleich der geschichtlichen Tatsachen um 1932/1933 herum das Buch des Amerikaners "H. R. Knickerbocker "German crisis" mit einbeziehen. Auch die "Aufzeichnungen von 1943 bis 1945" von Hans-Georg von Studnitz sind lesenswert.

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Auch der Jazz hat seine Geschichte.

Nachdem in Amerika mit dem Bürgerkrieg gleichzeitig die Sklaverei zuende ging, nahmen Neger (Schwarze) nicht nur vom Klavier (»Piano-Rag«), sondern auch von europäischen Blechblasinstrumenten Besitz. Die Gelegenheit war günstig, denn nach dem Bürgerkrieg wurden zahlreiche Militärkapellen der konföderierten Armee aufgelöst, so daß schwarze Musiker Klarinetten, Hörner, Posaunen oder Schlaginstrumente billig eintauschen oder kaufen konnten.

Damit ahmten sie die Musik der Weißen nach, die sie bis dahin am häufigsten gehört hatten: europäische Marschmelodien. Diese wurden ja nicht nur zur Ermunterung der Soldaten, sondern auch sonst fleißig gespielt: bei Umzügen, Paraden, Begräbnissen, Platzkonzerten.

Da die Mehrzahl der Neger aus naheliegenden Gründen (blieb Bildung doch lange ausdrücklich den Weißen vorbehalten, weshalb Schwarze sich das Lesen und Schreiben oft heimlich, sozusagen als friedliche Guerillas im Untergrund, beibringen mußten) keine Noten lesen konnten, wurden diese Marschmelodien frei nach Gehör gespielt.

Und frei nach dem eigenen, viel stärker rhythmischen als melodischen Gefühl der Schwarzen. Frei auch nach ihrem ungebändigten, lebensfrohen Temperament. Die Weißen hatten die Schwarzen unterdrücken, schinden, wie Tiere halten, aber sie nicht zerbrechen können. Die Neger hatten sich angepaßt, wie sich ein junger Baum dem schweren Sturme beugt, und überlebt.

So waren die einstigen Märsche gleich überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen, denn natürlich improvisierten die schwarzen Musiker auf Freude komm raus. Da vermischten sich ihre alten Lieder, Spirituals und Tänze wie beim Cake Walk oder Ragtime mit den europäischen Melodien.

Aus dem »Raggen« (rag = Lumpen, Fetzen - zerfetzen, zerreißen!) wurde ein »Jazzen«; aus einer französischen Quadrille beispielsweise der berühmte >Tiger-Rag<.
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Es waren die "Street Bands" in den Straßen

Erst spielten diese schwarzen Musikergruppen als Street Bands in den Straßen. Mit zunehmender Motorisierung, als sich das gesellige Leben immer mehr von den Straßen und Parks weg in große Säle, Tanzhallen und Lokale verlagerte, musizierten sie dann als Jazz- bzw. Dancing-Bands zu Unterhaltung und Tanz.

Mit Rhythmus, Melodie und Tempo veränderten die schwarzen Musiker auch die Instrumente. Die Hörner fielen weg, ihre Funktion übernahm die Posaune. Banjo oder Gitarre kamen neu hinzu. Die Tuba ersetzte immer häufiger der Schlagbaß.

In Anlehnung an die europäische Musizierpraxis verlagerte sich die scharfe Betonung des Rhythmischen immer mehr zum Melodischen hin. Relativ spät erst kam das Klavier, ab 1917 dann noch das Saxophon hinzu. Die Geige blieb nur dort in der Kapelle, in der hauptsächlich weiße Amerikaner musikalisch unterhalten werden wollten.

Ihren größten Erfolg hatte sie in sogenannten Salonorchestern, die sehr gefragt waren in vornehmen Bordellen, weil die Blaskapellen ja viel zu laut waren für verstohlene Liebesnächte.
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Dann kamen die Dancing- und Jazzbands

So unbekümmert wie die archaischen Street Bands waren die nachfolgenden Dancing- und Jazzbands dann beileibe nicht mehr. Was für schöne Späße diese impulsiven Musikanten trieben, schildert der Jazzpianist Morton:

»Während sich der Begräbniszug zum Friedhof hin bewegte, wurde >Flee as a bird to the mountain< oder >When the saints go marching in< gespielt. Die Beisetzung erfolgte ebenso zeremoniell und dezent; doch auf dem Nachhauseweg war das Temperament der Neger nicht länger zu zügeln. Kaum hatte sich das Friedhofstor hinter ihnen geschlossen, begann die Trommel zu rollen und das Kornett hohe, signalartige Noten zu blasen. Und noch nicht drei Häuserblöcke weiter erklangen in fröhlichen Jazz-Synkopen >Oh, didn't he ramble<.«

Für die frühen Street-Bands war das »Jazzen« noch kein Geschäft. Mit dem Aufbau einer alles und jeden vermarktenden amerikanischen Unterhaltungs- und Vergnügungsindustrie wurde dann auch der himmel- und seelenstürmende Jazz gnadenlos gestutzt und gezähmt.

Einerseits sackte er immer mehr zu reizvoll vibrierender Tanzmusik ab, andererseits entwickelte sich eine »seriöse« Club- und Konzertvariante für Jazzliebhaber und Experten. Was nach dem 1. Weltkrieg von der inzwischen zu Wolkenkratzerhöhen aufgestiegenen größten Weltmacht USA als Jazzmusik nach Europa kam, war bereits das glatt frisierte, gut konsumierbare kommerzielle Produkt einer längst auch bei weißen Musikern beliebten Tanz-, Unterhaltungs- und Kon-zertmusik.

Der Jazz - eine musikalische Revolution

Trotzdem war der Jazz eine musikalische Revolution, steckte doch selbst in seinen jämmerlichsten Nachahmungen noch viel von seiner frühen Wildheit. Seiner unberechenbaren Spontanität. Seinen fernsten Ursprüngen. Ganz klein zu kriegen war der Jazz nie, auch nie total zu kommerzialisieren.

Der Jazz-Rhythmus ist viel zu elementar, als daß seine Musiker oder sein Publikum je zu bloßen musizierenden Vollzugsbeamten oder übersatten Konsumenten verkommen könnten. Es ist durchaus kein Zufall, daß der Jazz bis auf den heutigen Tag hauptsächlich eine Musik für junge, rebellische Leute geblieben ist.

Diese Anziehungskraft auf ein bestimmtes, äußerst schwer in autoritäre Ketten zu legendes Publikum hatten auch die Nazis frühzeitig erkannt. Folgerichtig sprachen sie von einer »Verseuchung der deutschen Jugend«, nicht von einer Verseuchung des deutschen Volkes.

In der Jazzmusik lebt viel von der jugendstarken Gläubigkeit, der ungebändigten Kraft des Menschen, die weder nationale noch moralische Schranken kennt. Erlaubt ist, was gefällt und dem Menschen gut tut: Natur statt Dressur.

Das macht den Jazz für alle diktatorischen Systeme so gefährlich. Auch heute noch. Diese »artfremde "Niggermusik"« war in Griechenland zur Obristenzeit ebenso verfemt und verboten wie in der Nazidiktatur.
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Jazz begann der sogenannten großen, der mondänen Welt

Wie der Tango, der seinen Weg über die Salons von London und Paris machte, erreichte auch die Jazzmusik zuerst die junge Generation der sogenannten großen, der mondänen Welt. Anfang der 1920er Jahre schwärmte man in diesen feinen Kreisen für die freie Liebe, rasierte sich die Augenbrauen, rauchte Kokain - im Volksmund Koks - gab sich möglichst verrucht, war ganz Herr oder Dame von Welt.

Mit der freieren Moral wurden auch die Röcke immer kürzer, bis 1925 dann selbst das Knie unbedeckt sein durfte. Mit Röcken und Kleidern verkürzten sich auch die Haare: der Bubi- oder Pagenkopf kam groß in Mode.

Die alten Zöpfe waren endlich ab, wobei von denen, die das Berlin der 1920er Jahre zur »Welthauptstadt des Geistes« erklärten, an das Volk kaum gedacht wurde.
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Der Blick auf die kleinen Leute von 1920

Den kleinen Leuten nützten die großen Höhenflüge nur wenig. Sie machten weder satt, noch hielten sie warm. Bei Untersuchungen in einer Berliner Volksschule im Winter 1921 wurde das Arbeiterelend mal wieder statistisch erfaßt: von 650 Kindern hatten 150 keine Lederschuhe an, weil sie keine besaßen. Waren 300 ohne Wäsche, 150 ohne warmhaltende Jacken oder Mäntel oder andere Überkleidung. 350 von diesen Kindern bekamen nie Milch, 100 von ihnen waren so unterernährt, daß ihr Leben ernsthaft gefährdet war.

Zur äußeren Not kam das innere Elend. In seinem autobiographischen Bekenntnisbuch >Der halbe Weg< erinnert sich Axel Eggebrecht an einen Besuch bei dem Nervenarzt und Schriftsteller Alfred Döblin in Berlin, Mitte der 1920er Jahre:

  • »Nun ganz bei der Sache, lebhaft, oft ironisch, setzte er mir ungefähr das Folgende auseinander: Die neurologische Kassenpraxis in einem Proletarierviertel ist eine Aufgabe, die noch kaum als soziale Pflicht erkannt wird. Da leben die armen Leute, dicht gedrängt, in schlechten Schulen viertel-, achtelgebildet, dann Jahr um Jahr ausgebeutet und entwürdigt. Sie verkrüppeln seelisch. Den Nervenarzt haben sie nötiger als gelangweilte Bürgerweiber und vom blödsinnigen Gewinnstreben zermürbte Geschäftemacher. Im Grunewald ist Sigmund Freud große Mode - niemand denkt daran, Proletarier psychoanalytisch zu behandeln. Als hätten die keine Nerven!«


1920 bis 1923 - Das Chaos in Berlin und München

Während jährlich Zehntausende in den Wahnsinn getrieben wurden und in überfüllten Heilanstalten verschwanden, schlug die Verzweiflung bei anderen in mörderische Aggressionen um.

Massenmörder wie der »Werwolf« Haarmann versetzten ganze Städte in Angst und Schrecken. Freikorps, »Stahlhelm« und SA prügelten, tobten, mordeten immer brutaler. 1923 versuchten Hitler und General von Ludendorff in München einen Putsch. Der ging noch daneben. Doch niemand hinderte Hitler daran, sich während seiner sehr beschaulichen Haft auf neue Aktivitäten vorzubereiten.

1923 war auch der Höhepunkt der Inflation: im Oktober 1923 kostete ein Brot 2,5 Milliarden, ein Brötchen 75 Millionen, die billigste Zigarre 6 Milliarden. Zu diesem Zeitpunkt stand der Dollar bei etwa 4,2 Billionen Mark.

Amerika wurde immer mehr zum Mythos. Zum Wunderland »der unbegrenzten Möglichkeiten«, zum Ziel fast aller Auswanderer: 1923 flohen etwa 114.000 Deutsche vor dem Elend in der Heimat nach Übersee. Die meisten aber blieben im Lande. Wurden weder wahnsinnig noch zu Massenmördern oder Totschlägern. Harrten einfach aus. Versuchten dabei, weder ihren Kopf noch ihr Herz ganz zu verlieren. Sich nicht »unterkriegen« zu lassen, gegen das Elend anzustrampeln. Härter wurde wohl jeder in dieser harten Zeit.

Es entstand ein Galgenhumor mit Blitzableiterfunktion. Man rettete sich in Ironie und derben Spaß, seltener in Zynismus. Sang beispielsweise zu Walter Kollos beschönigenden Vertröstungsmelodien (Kollo schrieb jetzt immer mehr Auftragsarbeiten für lärmende >Hallo, wir leben noch<-Revuen) ausgesprochen ungemütliche Texte.

Aus: »Warte, warte nur ein Weilchen / Bald kommt auch das Glück zu dir / Mit den ersten blauen Veilchen / Klopft es leis an deine Tür...« wurde: »Warte, warte nur ein Weilchen / Bald kommt Haarmann auch zu dir / Mit dem kleinen Hackebeilchen / Macht er Schabefleisch aus dir.. «
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Der Unterhaltungskünstler Robert Steidl

Keinem Unterhaltungskünstler der Zeit gelang es besser als Robert Steidl, den unbeirrbaren Lebenswillen des Volkes auf populäre Weise in einem Schlager auszudrücken. Der Refrain seines für den Kölner Fasching geschriebenen Stimmungsliedes >Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen< avancierte während der Inflationszeit zur eigentlichen Nationalhymne, auch wenn seit 1922 offiziell das >Deutschlandlied< dafür galt.

Im selben Jahr widmete Kurt Tucholsky diesem kleinen Refrain mit der durchschlagenden Wirkung als dem »vollendetsten Ausdruck der Volksseele« einen kurzen Essay. Dort heißt es u.a.:

»So singt das Volk. Hier ist es ganz. Es soll uns nicht wundernehmen, wenn nächstens in einem schlichten Volkslied das Wort >Teuerungszulage< oder Weihnachtsgratifikation vorkommt - denn dies allein ist heute echte, unverlogene Lyrik.«
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Als der "Mangel" an Bananen besungen wurde

Vom "Mangel" wurde jetzt öfter im Schlager gesungen. Nicht vom alltäglichen der kleinen Leute, den fehlenden Kohlen oder Kartoffeln. So tief war der Schlager nun doch noch nicht gesunken, daß er sich tatsächlich auf die Wirklichkeit einließ. Sie ganz zu meiden, war auch nicht möglich, dafür war das Elend zu verbreitet.

Es zu besingen, wäre vielleicht der Sänger Pflicht gewesen, versprach aber zu wenig Profit. Mit exquisitem Mangel war da schon mehr zu machen, beispielsweise den fehlenden Dollars oder Bananen.

Mit >ausgerechnet Bananen< (>Yes, we have no bananas<) - übersetzt von dem Texter Beda, wohinter sich Fritz Löhner verbarg, der einst lyrische Verse, sogar ein Oscar-Wilde-Drama verfaßt hatte - setzte sich die erste Welle gesungener amerikanischer Unterhaltungsmusik in großem Umfang durch.

Noch kamen die deutsch-österreichischen Komponisten, die den inländischen Markt bisher ziemlich ausschließlich bestimmt hatten, recht wacker gegen die starke Konkurrenz aus Übersee an.

Allerdings nur, wenn sie die vielen musikalischen Einflüsse von draußen aufnehmen und zu eigenen Kompositionen verarbeiten konnten. Lincke hatte das noch nicht gekonnt, jedenfalls nicht gut genug. Gilbert und Kollo hatten es, jeder auf seine Weise, schon besser gemacht. Von jetzt an mußte jeder, der Erfolg haben wollte, von vornherein zum musikalischen Kosmopoliten werden. Der deutsche Schlager wurde international.
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Die Erfolge von Franz Lehars Operetten

Der erste musikalische Kosmopolit der Operette war Franz Lehar. Während Johann Strauß mit seinen Walzer- und Marschmelodien ganz dem höfischen Wien, Jacques Offenbach (obwohl in Köln geboren) mit seinen spritzig-witzigen Operetten mühelos dem nachrevolutionären Paris, Paul Lincke (trotz seiner Pariser Schulung) zweifelsfrei dem Wilhelminischen Berlin zugeordnet werden konnten, war Franz Lehar überall und nirgends zu Hause.

Es war deshalb durchaus nicht zufällig, daß Lehar, in Ungarn geboren, Student am Prager Konservatorium, in Wien lange als Militärkapellmeister tätig, seine größten Erfolge zuerst in London und Paris hatte. Selbst seine >Lustige Witwe< war bei ihrer Uraufführung in Wien erst einmal durchgefallen, bevor sie durch andere Aufführungen rehabilitiert, ihren Siegeszug auch in der alten Kaiserstadt antreten konnte.

Was Lehar, der nach den großen Meistern des »goldenen Zeitalters der Operette« erfolgreichste Singspielkomponist, schrieb, war internationale Salonmusik, vermischt mit heimatlicher Folklore. Das machte seine Musik bei aller Gefälligkeit für verwöhnte High-Society-Ohren höchst ungewöhnlich und fremdartig, damit aufregend und interessant.

Lehars Musik war nie eine Herausforderung wie der Jazz, der von der Straße kam. Seine Operettenmelodien tönten für sein Publikum berauschend schön, voller Liebreiz und Schmeichelei. Dabei waren sie immer etwas schwermütig, oft bis zum Gefühlskitsch sentimental. Genau das gefiel.

War beim feudalen Operettenpublikum das beseligende Jauchzen und zu-Tode-betrübt-Sein als Ersatz für die eigene, innere Gefühlsarmut doch gewaltig beliebt. Nach dem (1. Welt-) Kriege, als es mit den Erfolgskompositionen der Vorkriegszeit beständig bergab ging - Jean Gilbert mit seinem neugegründeten Konzern im finanziellen Fiasko endete und nach Amerika entschwand; Walter Kollo immer seichtere Karnevalsmusik für die Haller-Revuen schrieb -, feierte Franz Lehar mit seinen Operetten >Paganini<, >Der Zarewitsch< oder >Das Land des Lächelns< neue große Triumphe. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, wieviel Glück der Meister des »silbernen Zeitalters der Operette« hatte.
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Das Glück hieß Richard Tauber

Richard Tauber war eigentlich Opernsänger, sang zwischendurch aber immer mal wieder auch Operette, bis sie dann sein Sängerschicksal wurde. Wie einst die >Lustige Witwe<, so war auch >Paganini< in Wien trotz Pauken und Trompeten durchgefallen, weshalb der Herr Direktor vom Berliner Künstlertheater den Franz Lehar dann eigentlich überhaupt nicht mehr im Hause haben wollte. Doch Richard Tauber, zum Singen engagiert, bestand auf seinem Recht. Dazu er selbst:

  • »Das Berliner Bühnenschiedsgericht mußte sich mit der Sache beschäftigen. Wir schlossen einen Vergleich. Ich verzichtete auf die Hälfte meines Honorars, Lehar auf seine Tantiemen. Die Zahl der Aufführungen wurde von 50 auf 20 herabgesetzt. Bei den Proben wurden Lehar und mir alle erdenklichen Bosheiten zugefügt. Direktor Saitenberg übersah uns beide ... Bei der Premiere, zu der Saitenberg dem Komponisten nicht einmal Karten zur Verfügung gestellt hatte, saß Lehar mit seiner Frau in einer voll bezahlten Loge im zweiten Rang. Als aber nach meinem Lied >Gern hab ich die Fraun geküßt< das Publikum nach Lehar schrie, holte ihn Saitenberg auf die Bühne. Lehar sagte nachher, mit Tränen in den Augen, zu mir: >Weißt du, Richard, in diesem Augenblick bin ich künstlerisch zum zweitenmal auf die Welt gekommen .... Nach der 100sten Aufführung drängte Saitenberg auf eine Verlängerung um weitere 200 Vorstellungen mit mir. Ich wollte und konnte nicht mehr, da andere Verpflichtungen auf mich warteten. Ich willigte in weitere 50 Vorstellungen, jedoch unter der Bedingung, daß Saitenberg das ursprünglich vereinbarte volle Honorar nachzahlte und Lehar die vollen Tantiemen vom ersten Aufführungstag an verrechnete.«

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Erfolg im pelz- und perlenbehängten Funkel-Berlin

Beim >Zarewitsch< war der Erfolg dann von vornherein so klar, daß sich das Erfolg im pelz- und perlenbehängte Funkel-Berlin zum gesellschaftlichen Stelldichein nur so drängte. Das >Wolgalied< konnte Tauber gar nicht oft genug wiederholen. Ein neuer Lehar/Tauber-Schlager war geboren. Daran änderte auch der zornige Stoßseufzer eines geplagten Kritikers der >Berliner Morgenpost< nichts:

»Ich habe genug von diesen Schablonenoperetten ohne Handlung, ohne Einfälle und ohne Witz. Ich will auch in der Operette Menschen und keine uniformierten Panoptikumfiguren sehen.«

Der Witz waren ja aber auch gar nicht die Operetten, sondern ihr Publikum: ein Operettenpanoptikum aus Schiebern, Spekulanten, neureichen Angebern, habgierigen Raffkes, schwärmerischen Tauberfans sowie den reich gebliebenen Herrschaften der alten Oberschicht.
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Fritzi Massary die berühmteste Operettendiva ihrer Zeit

Der weibliche Star dieser feinen Ganovenbande in Frack oder Smoking hieß Fritzi Massary und war die berühmteste Operettendiva ihrer Zeit. In den 1920er Jahren stand sie, die Massary, so unangefochten an der Spitze aller Operettenseligkeit, daß ihre Gagen astronomische Summen erreichten. Sich Komponisten, Texter, Theaterdirektoren ihren, oft recht kapriziösen, Wünschen wie Befehlen beugten.

Sie herrschte auf ihrem Gebiet wie der selbstgefälligste Diktator, wobei sie rücksichtslos gegen jede vorging, die ihr - und sei es nur für Minuten - auf der Bühne eventuell die Schau stehlen konnte.
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Die Konkurrentin Claire Waldoff

Diese Erfahrung mußte auch Claire Waldoff machen. Als sie in der Generalprobe der Leo-Fall-Operette >Madame Pompadour< für das Duett >Josef, ach Josef, was bist du so keusch<, das sie gemeinsam mit dem >Reeperbahn<-Komponisten Ralph Arthur Roberts sang, brausenden Beifall erhielt, bestimmte die Massary tyrannisch: »Das Duett singe ICH!«

Weil die resolute Ciaire Waldoff auf dem Duett bestand, sah der Herr Direktor keinen anderen Ausweg, als die Rolle der Waldoff umzubesetzen, ihr aber trotzdem einen Monat lang die vereinbarte Gage voll auszubezahlen.

Die Premiere der >Pompadour< im Inflationsjahr 1922 wurde auch ohne die populäre Claire ein rauschender Erfolg. Jede Operettenpremiere mit der Massary war damals ein absoluter gesellschaftlicher Höhepunkt. Ihre Kritiken lesen sich denn auch nicht wie Kritiken, sondern wie stereotyp verfaßte Hofberichte.

Im allgemeinen hielt die stolze Diva wie 1924 in Gilberts Schmachtfetzen >Die Geliebte seiner Hoheit< ja aber auch tatsächlich auf der Bühne Hof:

  • »... kam die genialste Frau der deutschen Singspielbühne, die allzeit moussierende Massary, einhergetollt, den Champagnerkelch zur Hand, einen Reigen tänzelnder, scharwenzelnder Verehrer um sich ... Wenn die Massary auf der Bühne ist, versinkt alles um sie und neben ihr. Sie herrscht, dominiert, sie hypnotisiert, sie beglückt und verzaubert. Und hätte sie vielleicht nur das ABC oder das Einmaleins wiederzugeben, so würde ihr sieghafter Charme, ihr sprühender Geist, ihre wirbelnde Laune und ihre ewige Jugend nicht minder triumphieren.«

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Der Komponist Walter Kollo

Trotz der Stars - auch Hans Albers hatte seine ersten großen Erfolge als Operettenbuffo, bevor er, wie so viele andere, dann noch größere Karriere machte beim Film -, war die Operette auf Dauer nicht zu retten. Ihr unaufhaltsamer Niedergang läßt sich besonders deutlich an einem Komponisten demonstrieren, der wie kein zweiter für Glanz und Elend der Berliner Richtung dieser biedermännischen Unterhaltungskunst stand: Walter Kollo.

Zwar hatte er, der neben Paul Lincke populärste deutsche Unterhaltungskomponist seiner Zeit, auch nach dem Kriege nichts von seiner Beliebtheit eingebüßt, doch ließ er sich nach seinem strammen musikalischen >Immer feste druff<-Einsatz mehr und mehr auf die schnelle Fließbandproduktion billiger Tagesschlager ein.

Kollo, eigentlich Kollodzieyski, war einst gegen den erklärten Willen seines Vaters, wohlhabender Kaufmann in der ostpreußischen Kleinstadt Neidenburg, Musiker geworden. Vom gestrengen Herrn Papa wegen seiner nicht standesgemäßen Leidenschaft für eine »brotlose Kunst« enterbt, von der Mutter trotzdem unterstützt, lernte er das musikalische Handwerk von der Pike auf.

Während seiner Studienzeit beschäftigte er sich auch, sogar besonders intensiv, mit Kirchenmusik. Nach dem Abschluß seines Studiums begann Kollo, wie es damals üblich war, eine Laufbahn als Kapellmeister, zuerst am Luisentheater in Königsberg.

In Berlin hatte es der Anfänger schwer, war er doch nur einer von vielen Glücksrittern, Träumern und Narren, die darauf hofften, in der singenden, klingenden, springenden Metropole Berlin ihr Glück zu machen. Kollo musizierte in der Hasenheide, schrieb fleißig Couplet- und Tanzmelodien.

Hermann Frey - ein waschechtes Großstadtunikum

Und so lernte er eines Tages den Berliner Hermann Frey kennen. Der war ein waschechtes Großstadtunikum. Hatte vieles probiert, nichts beendet, machte gern die Nacht zum Tage, wobei er sich bevorzugt in bestimmten Künstlerkneipen rumtrieb. Aus purem Spaß an der Freud begann er, für sich und seine munteren Freunde fröhliche Verse, Trink- und Scherzlieder zu schreiben. Alles für die nächtliche Unterhaltung und nicht so ernst gemeint.

Mit dem trinkfreudigen Frey zog Kollo häufig durch die Stadt, meistens nachts und immer zu jeder Schandtat bereit. Auf einer dieser Bummelreisen entstand ganz nebenbei eins ihrer berühmtesten Lieder, die Säuferhymne >Immer an der Wand lang<.

Die Legende berichtet, daß irgendein total besoffener Musiker in irgendeiner sangesfreudigen Klimperkneipe das dortige verstimmte Klavier gegen Morgen wie ein Tobsüchtiger berackerte, wozu er herausfordernd brüllte: »Immer an der Wand lang! Immer an der Wand lang!«

Innerhalb von Sekunden brach in der Kneipe ein ekstatischer »Immer an der Wand lang«- Taumel aus, woraufhin der einsatzbereite Texter Frey dem trunkenen Manne diese fünf Worte für drei Mark abkaufte.

Um diese für'n Taler erworbenen Worte schrieb er dann einen bierfröhlichen Text, den Kollo entsprechend vertonte. Entstanden war ein Schlager, der - innerhalb weniger Wochen in ganz Deutschland gegröhlt, gepfiffen und getrommelt - zu einem gesungenen Sprichwort wurde. Zu einer Art Kinderlied beim schaumschlagenden Männersuff in sämtlichen Wirtschaften und Kneipen.

Der langsame schleichende Durchbruch des Walter Kollo

Langsam, doch unüberhörbar begann Kollo, sich durchzusetzen. Schrieb er außer Liedern und Couplets auch seine ersten größeren Kompositionen, damals als Possen mit Gesang bezeichnet, heute als Operetten. >Wie einst im Mai<, entstanden 1913, gilt noch immer als musikalisches Glanzstück deutscher Singspielunterhaltung.

Besser war Kollo nie, besser wurde er auch nicht mehr. Nach dem Kriege kümmerte er sich zuallererst um seinen Verlag und andere Geschäfte. Versuchte sich auch als Theaterunternehmer. Dieser Versuch ging allerdings vom ersten Tag an so schief, daß Kollo sein piekfeines Kabarett Potpourri bald nach der Eröffnung schon wieder schließen mußte.

Der getreue Kumpan Hermann Frey, der sich an dem exklusiven Unternehmen trotz besserer Einsicht beteiligt hatte, verlor mit dem Geld keineswegs seinen Humor:

»Der Betrieb im Restaurant ging besser als der im Theater. Die Einnahmen aus der Gastronomie konnten aber das Minus aus dem Theaterbetrieb auf die Dauer nicht decken. Die reichen Fremden blieben fort, und die einheimischen Berliner konnten sich den Luxus nicht leisten, einen Abend im Potpourri zu verbringen. Nur ein Berliner kam täglich - der Gerichtsvollzieher!«
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Walter Kollo hatte wider Glück

Auch Kollo mußte nicht verzweifeln, denn Hermann Haller (Texter so mancher kriegsverherrlichender Vaterlandsschnulze, jetzt erfolgreicher Theaterleiter) engagierte ihn genau im richtigen Moment als Komponist für seine aufwendigen Revuen im Admiralspalast.

Diese, nach amerikanischem Vorbild in den gigantischen Blödsinn gesteigerten Ausstattungs-Tralalas nahmen vorweg, was der Tonfilm dann in Serie auf die Leinwand brachte: ein bunt zusammengewürfeltes Mischwarenangebot von nackten Mädchenbeinen, glitzernden Kostümen, tolldreisten Militärspäßen, lärmender Tanz- und Marschmusik. Quatsch war Trumpf, Draufschlagen die Losung.

Wer hatte, der hatte und zeigte, was er hatte mit größtmöglicher Penetranz her. Wer nichts hatte, der tat zumindest so, als ob er was hätte.
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Die erfolgreichen Quatsch- und Nonsensliedchen

Überall waren die skrupellosen Betrüger Schema F fabrizierte Konfektionsware für ein bestimmtes Publikum mit genau berechneten Hits für eine Saison: - da er seine vergnügungsgeilen Pappenheimer, die oft extra aus der Provinz angereist kamen, um in der Hauptstadt mal was Tolles zu erleben, ja bestens kannte -  >Mein Papagei frißt keine harten Eier<, >Solang nicht die Hose am Kronleuchter hängt< .....

Diese äußerst erfolgreichen Quatsch- und Nonsensliedchen (sie waren ab Mitte der 1920er Jahre im wahrsten Sinne des Wortes der letzte Schrei vor dem tiefen Fall in die Weltwirtschaftskrise), zu denen wieder Frey die Texte schrieb, zählen in Kollos Spätphase sogar zu seinen besseren Taten. Es gab weit schlechtere, beispielsweise kümmerlichste Nachtbar-Allotria wie den schwachsinnigen Fox >Ein Flip, ein Gin, ein Mädel<. Alles, was früher nie in Kollos Schlagern vorkam, weil das weder sein musikalischer Stil noch seine Welt war, ist jetzt da: Frack, Monokel, Sekt und Kaviar.
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Der leergebrannte Musikus Kollo starb 1940

In den 1930er Jahren fand der leergebrannte Musikus, wenn auch in sehr abgeschwächter Form, noch einmal zu seinen Anfängen zurück.

>Berlin, wie es weint - Berlin, wie es lacht< hieß das Volksstück von Hans Brennecke, zu dem er die Musik schrieb. Inzwischen waren die Nazis an der Macht. Der zweite weltweite Krieg blieb Kollo erspart. Jedenfalls der schlimmste, der vernichtendste Teil davon.

Er starb am 4. 10. 1940 in Berlin, erst 62 Jahre alt. Sein Publikum vergaß ihn nicht. Seine Revue-Untaten versanken im großen Abfalleimer der Zeit, viele seiner Volksschlager jedoch haben die für so vieles und so viele tödlichen Jahrzehnte bei bester Gesundheit überlebt. So tat die Deutsche Bundespost trotz alledem sehr recht, als sie den ostpreußischen >Urberliner< Kollo zu seinem 100. Geburtstag im Frühjahr 1978 mit einer Briefmarke ehrte.

Jetzt kam die Zeit der Söhne .....

Den abgetretenen Meistern folgten die Söhne: Jean Gilbert sein Sohn Robert, Victor Hollaender der >Blaue Engel<-Komponist Friedrich, Walter Kollo Sohn Willi. Viel berühmter, nicht als Komponist oder Texter, sondern als Sänger, wurde freilich Kollos Enkel Rene.

Die Operette war als Goldesel auf Dauer nicht zu retten

Mit den Söhnen kamen keine grundsätzlich neuen Töne in die sterbenskranke Operette, weder musikalisch noch inhaltlich. Sie bewegten sich alle - mehr oder weniger einfallslos - in den vorgegebenen Bahnen. Verließen die schmalen Einbahnstraßen nicht, die längst zu Sackgassen geworden waren.

Auch wenn es noch die eine oder andere »Sensationsoperette« gab - Eduard Künnekes grandiosen >Vetter aus Dingsda< zum Beispiel, Fred Raymonds gewinnbringende Rückerinnerung an studentische >Altheidelberg<-Zeiten oder Ralph Benatzkys schlagerträchtige Revue-Operette >Im weißen Rössl< - die Zeit ungestörter Operettenlust war im Grunde schon mit dem 1. Weltkrieg, in den 1920er Jahren dann endgültig vorbei.
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