Begleittext einer Rückschau - "Über den deutschen Schlager"
Diese Biografie und historische Aufarbeitung des deutschen Schlagers wurde in 1978 von der Journalistin Monika Sperr geschrieben. Frau Sperr beschreibt in ihrem Vorwort ihre Sichtweise der Geschichte und der Ereignisse aus dem Blickwinkel des Arbeitermillieus. Aus Sicht des Rezensenten ist die gesellschaftspolitische Färbung mancher Absätze etwas zu einseitig und öfter die Tatsachen verfälschend. Diese Biografie sollte mit Bedacht und auch nachdenklich gelesen werden.
Überhaupt sollte man zum Vergleich der geschichtlichen Tatsachen um 1932/1933 herum das Buch des Amerikaners "H. R. Knickerbocker "German crisis" mit einbeziehen. Auch die "Aufzeichnungen von 1943 bis 1945" von Hans-Georg von Studnitz sind lesenswert.
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Der Schlager heute (in 1978) und wie alles begann .....
Heute ist der Schlager fast identisch mit Tanzmusik, in seinen Anfängen schöpfte er dagegen aus vielen Quellen. Er wurzelte ebenso im reichen Liedgut des Volkes, in seinen frechen Gassenhauern, seinen zahlreichen Arbeits-, Trink- und Bänkelliedern, wie im Singspiel, der Posse oder der Operette.
Noch bis 1945 kamen die Schlager aus allen Gebieten der leichten Musik, wenn sich in den 1920er und 1930er Jahren unseres Jahrhunderts das Tanzlied auch immer mehr den ersten Platz unter den Schlagerlieferanten eroberte.
Ursprünglich war Schlager kein Gattungs-, sondern ein Erfolgsbegriff. »Kinder, das hat eingeschlagen!«, soll der Wiener Schauspieler und Sänger Alexander Girardi nach der zehnten Aufführung des Liedes >Bei Tag, da bin ich hektisch, bei Nacht bin ich elektrisch< (es stammt aus der 1871 uraufgeführten Millöcker-Operette >Drei Paar Schuhe<) ausgerufen haben.
Anderen Berichten zufolge liegt das Geburtsjahr des Schlagers zehn Jahre später. Als Geburtshelfer wird wieder Alexander Girardi genannt, was vor allem eins beweist: Von seinen ersten Anfängen an gehörte zum Schlager der Star. Sieben Jahre nach der Uraufführung der >Fledermaus< hatte Johann Strauß (Sohn) 1881 mit der Wiener Premiere seiner Operette >Der lustige Krieg< einen neuen großen Erfolg.
Über die begeisterte Aufnahme des Walzerliedes >Nur für Natur< berichtete ein Augenzeuge: »Die Füße wurden einem ordentlich rebellisch, als Girardi in seiner liebenswerten Weise anhub: Nur für Natur ... Das Publikum begleitete erst die prickelnde Weise mit einem leichten Neigen und Wiegen der Köpfe, dann wurde man wärmer, und die Hände und Füße begannen, im Dreivierteltakt zu rumoren. Das schlug - ein Blitz, ein Knall - granatenhaft ein, und Girardi mußte den Walzer dreimal singen.«
Es gab Ländler fürs Volk und Menuette für den Adel
Zu dieser Zeit war der Walzer, einst schwungvoller musikalischer Protest des aufstrebenden Bürgertums gegen die erstarrte feudale Ordnung, längst zu seichter Walzerseligkeit verkommen.
Die revolutionäre Sprengkraft des Walzers im feudalen Gesellschaftsleben Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts ist heute wohl nur schwer vorstellbar. Man muß wissen, daß die Tanzmusik vor 1800 hauptsächlich in Form bäuerlicher Tänze oder als Kunstgenuß an den Adelshöfen existierte.
Was bei Hofe getanzt wurde, war fürs gemeine Volk tabu, hätte vom Volk auch gar nicht getanzt werden können, weil's viel zu geziert, zu gravitätisch war für hart arbeitende Bauersleute, und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren die Bauern zahlenmäßig die stärkste Klasse in Deutschland.
Was in den Dörfern getanzt und gesungen wurde, entstand - häufig anonym - im Volke. Wurde von Musikanten aus dem Volke erfunden, von Musikanten des Volkes weitergegeben, im Volke lebendig erhalten.
Für die ganze Periode des Feudalismus, auch für seine Endphase, den Absolutismus, ist es typisch, daß die verschiedenen Klassen und Schichten der Gesellschaft ihre eigenen Tänze haben.
Dafür ein Beispiel: Ländler und Menuett. Der Ländler mit seinen schwungvollen Drehungen, seinen springenden und stampfenden Tanzschritten entspricht ganz der Lebens- und Empfindungsweise der Bauern. Seine Musik ist einfach und schön, die Melodik kräftig, bisweilen ausgesprochen lustig, ja übermütig. Der Ländler fordert geradezu zum Hopsen und Stampfen heraus.
Ganz anders das Menuett. Es ist graziös, eine erhabene Angelegenheit. Hier wird nicht gehüpft und gesprungen; der Tanz gleicht einem feierlichen Schreiten. Verständlich, daß der Ländler bei der höfischen Gesellschaft verpönt war. Vorläufer des Ländlers - bereits das Mittelalter kennt Drehtänze im Dreivierteltakt, dem späteren Ländler ähnlich - waren denn auch des öfteren von der jeweils herrschenden Obrigkeit, besonders der Kirche, verboten worden.
Die ungezwungene Lebensfreude, die diese Drehtänze ausstrahlten, paßten nicht in die engen Moralvorstellungen, die damals dem Volke gepredigt wurden.
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Der Walzer stammt vom Volk
Der Walzer aber ist nicht aus dem höfischen Menuett, sondern dem bäurischen Ländler hervorgegangen. So aufsässig war damals das Bürgertum, daß es im Kampfe gegen Absolutismus und Fürstenherrschaft auch gleich die verknöcherten Kunstideale der höfischen Gesellschaft mit über Bord warf und auf Tänze und Lieder des Volkes zurückgriff.
Natürlich war der beschwingte Walzer kein Ländler mehr, und auch im Freien ließ er sich schlecht tanzen. Für ihn brauchte man zum unbehinderten Dahinschweben ein möglichst glattes Parkett, wie es die prachtvollen Tanzsäle des wohlhabenden Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts dann auch vorweisen konnten.
Die alberne höfische Kleidung, wozu u. a. die Kniehose gehörte, war nach der Französischen Revolution auch in Deutschland abgeschafft worden - gültig blieb sie nur noch für Lakaien. Der Herr von Welt trug jetzt nach englischem Vorbild Frack und Zylinder, die Damen Kleider mit weiten, knöchel- oder bodenlangen Röcken, was alles ganz besonders schön zur Geltung kam beim Walzertanzen.
Getanzt wurden Walzer und andere Gesellschaftstänze des 19. Jahrhunderts wie Galopp, Polka, Rheinländer oder Polonaise aber nicht nur in den Salons der vornehmen Bürgerwelt, sondern auch in den Wirtshäusern zum Festtagsvergnügen der kleinen Leute.
Besonders Walzer und Polka, jene zwei Gesellschaftstänze des 19. Jahrhunderts, die ihre mitreißende Lebenskraft bis heute bewiesen haben, waren beim »niederen Volke«, den Handwerksgesellen, Fabrik- und Landarbeitern, Tagelöhnern, Wäscherinnen, dem weiblichen und männlichen Dienstpersonal ebenso beliebt wie bei den »oberen Tausend«, den Großgrund- und Fabrikbesitzern, reichen Kauf- und Handelsleuten, vermögenden Offizieren und Beamten samt ihren Damen.
Auch Goethe läßt seinen Werther mit seiner Dame »walzen«: »Und da wir nun gar ans Walzen kamen...« - Sein Werther tanzt wahrscheinlich eine zwitterhafte Mischform des Ländlers im Übergang zum Walzer, der ja nicht plötzlich, sondern allmählich Gestalt annahm, bis er durch Josef Lanner, Johann Strauß (Vater und Sohn) seine klassische Form erhielt.
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und der Walzer kam überwiegend aus Wien
Daß die ersten großen Meister der kommerziellen Tanzmusik alle in Wien, nicht in Berlin, München oder Hamburg zu Hause waren, hing mit der Zersplitterung Deutschlands in viele feudalistische Zwergstaaten zusammen. Wien dagegen war als Metropole des österreichisch-habsburgischen Kaiserreiches schon um 1800 eine Großstadt mit bald 200.000 Einwohnern.
Hier konzentrierte sich alle musikalische Begabung des Landes, so daß sie sich besonders glänzend in Gestalt einiger berühmter Meister ausdrücken konnte. In Deutschland aber kamen die einzelnen Tanzmusikkomponisten nicht über lokale Bedeutung hinaus. Das änderte sich erst mit dem Aufstieg Berlins zur Metropole des Deutschen Kaiser Wilhelm Reiches.
Zu Lanners Zeit (1801-1834) war der Walzer bereits hoffähig geworden. Das lag auch an seiner optimistischen Musik, hauptsächlich freilich an der gerissenen Taktik eines Fürsten Metternich, der auf dem Wiener Kongreß von 1814/15, bei dem es um die Neuverteilung Europas nach den Napoleonischen Kriegen ging, alles tat, um von der revolutionären Jakobiner-Stimmung »Menschenrecht vor Fürstenrecht!« im ehemaligen Römischen Reich Deutscher Nation abzulenken.
So tanzte der Kongreß auf seinen täglichen (!) Bällen Walzer, Walzer, Walzer. Das war kein reines Vergnügen, war fast schon eine kriegerische Tanzübung, sollte diese gewaltige Walzerdemonstration das Volk im österreichisch-deutschen Vielstaatengestrüpp doch endgültig
von allen Wünschen nach nationaler Einheit und demokratischen Grundrechten abbringen.
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Aus Wien kommt auch ein neuer Slogan
»Das Volk soll sich nicht versammeln, es soll sich zerstreuen!«, hieß das Motto der reaktionären Kräfte. Das Volk aber zeigte sich widerspenstig. Ein verbotenes Lied wie >Die Gedanken sind frei!<, um 1800 auf Flugblättern erschienen, wurde so häufig und ausdauernd gesungen, daß es bis heute populär geblieben ist. Ein Volkslied heute, damals ein Widerstandslied.
Wenn die Obrigkeit gegen »Staatsfeinde« vorgeht
Die rebellische Stimmung im Lande nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon ließ sich mit Walzer allein natürlich nicht beruhigen. Nur vier Jahre nach dem tanzenden Kongreß setzte Metternich in Zusammenarbeit mit Preußen und anderen zuverlässigen Staaten deshalb die Karlsbader Beschlüsse gegen »demagogische Umtriebe« durch.
Sie sahen eine strenge Überwachung der Universitäten und eine verschärfte Zensur vor. Alle »Demagogen, Burschenschaftler, Turner und sonstigen Radikalen« wurden als »Staatsfeinde« mit schweren Strafen bedroht.
So mußte beispielsweise Heinrich Heine, der u. a. ja auch viele der schönsten deutschen Lieder geschrieben hat, vor staatlicher Verfolgung nach Paris fliehen.
Auch Georg Büchner, dessen Streitschrift »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« eine polizeiliche Großfahndung auslöste, entging seiner Verhaftung im Großherzogtum Hessen nur durch die rechtzeitige Flucht nach Straßburg.
Turnvater Jahn freilich entwischte dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. nicht und wurde als gefährlicher »Demagoge« zwei Jahre lang eingekerkert; danach stand er bis zu seinem Lebensende unter Polizeiaufsicht.
Turnen war in Preußen damals auch verboten
Während der Freiheitskriege gegen Napoleon hatte man das Turnen und Turnvater Jahns begeisterten Einsatz für die »körperliche und moralische Volksertüchtigung« zwar gut gebrauchen können, brauchte man doch stramme Soldaten.
Doch kaum war Napoleon endgültig geschlagen und in die Verbannung geschickt, da wollte man auch keine turnenden, sich in Gruppen oder vielleicht sogar Vereinen zusammenschließenden Menschen mehr.
Tanz und Gesang aber blieben erlaubt
Tanz und Gesang aber blieben erlaubt, auch wenn man sich dazu in Gruppen zusammenfand. In einem Brief an ihre Freundin berichtete Johanna Matthieux über einen musikalischen Hausabend in einem der Bürgerhäuser des Jahres 1838:
»Neulich war Gesellschaft bei Hegels. Nach Tisch sollte Musik gemacht werden. Der Flügel war aber verstimmt, da wanderten wir alle aus zu mir, die ich dicht nebenan wohne. Der Philosoph trug die große Lampe voran über die Straße, die anderen folgten mit Wachslichtern. Die Damen retteten das Dessert, und die Herren schleppten Stühle, und so waren wir bald häuslich niedergelassen bei mir. Wir atmeten Traubenduft wie der Kaiser Karl, und sangen und spielten bis spät.«
Was bei Hegels gesungen und gespielt wurde, war sicher sehr harmlos, gemessen an den Frechheiten, die später in den Arbeitergesangvereinen geschmettert wurden. Dort wußte man die Vorliebe der monarchistischen Obrigkeit für musikalische Zerstreuungen des Volkes geschickt zu nutzen.
Als die gerade erst gegründete SPD durch Bismarcks Sozialistengesetz gleich wieder verboten war, wurden die Arbeitergesangvereine in vielen Orten des scharf überwachten Kaiserreiches zu konspirativen Treffpunkten für die Verfolgten.
Oft half ein einfacher Trick, die kaiserlichen Schergen zu überlisten: man sang zu Melodien bekannter kaisertreuer Lieder wie >Die Wacht am Rhein< seine eigenen aufsässigen Texte.
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In den 1820er und 1830er Jahren des 19. Jahrhunderts
In den 1820er und 1830er Jahren des 19. Jahrhunderts aber waren die Arbeiter noch nicht organisiert. Weder in Gesangvereinen noch Gewerkschaften oder Parteien. In vielerlei Hinsicht waren jene Jahre eine äußerst düstere, gleichermaßen rechtlose wie lichtlose Zeit.
Es gab weder bürgerliche Grundrechte oder Sozialgesetze noch Elektrizität. Auch fehlten Radio, Auto, Telefon. Doch schon 1835 fährt die erste deutsche Dampflok von Nürnberg nach Fürth, und mit der explosiven Entwicklung von Handel, Technik, Industrie und dem raschen Anwachsen der Bevölkerung von 29 Millionen im Jahre 1806 auf 56 Millionen zur Jahrhundertwende 1899 drängen immer mehr Menschen vom Land in die Stadt.
Die Städte wachsen schnell, zu schnell. Hat Berlin um 1820 erst 198.000 Einwohner, so sind's bei der Reichsgründung 1871 schon 826.000, um 1900 dann mehr als 2,5 Millionen.
Hamburg wächst zwischen 1810 und 1890 von 100.000 auf 900.000 Menschen, die Einwohnerzahl Frankfurts erhöht sich zwischen 1850 und 1905 um 500 Prozent. Die Städte wachsen nicht nur viel zu schnell, sie sind überhaupt eine ziemliche Katastrophe.
Schlecht oder gar nicht gepflastert die engen Straßen, keine Kanalisation, kaum Straßenbeleuchtung, überall Fäkalien- und Abfallgestank. Da die Menschen ihren Kot einfach im Boden versenken, gleich nebenan ihr Trinkwasser aber aus demselben Boden schöpfen, sind Seuchen an der Tagesordnung. Cholera, Typhus und Tuberkulose (»Schwindsucht«) heißen drei der schlimmsten Geißeln der Zeit.
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Ein Zeitgenosse notierte über München :
Über das München des Jahres 1854, bereits 130.000 Einwohner und noch immer ohne Kanalisation, notierte ein Zeitgenosse:
»Ein schwefelgelber Dampf schien über der Stadt zu liegen. Auf den Straßen sah man die bekannten Wagen. Die Zahl der Toten stieg allmählich auf hundert und mehr je Tag.«
Das Berlin um 1860 bezeichnete der amerikanische Historiker Henry Adams als »eine ärmlich schäbige Provinzstadt, primitiv, schmutzig, unzivilisiert und in vieler Hinsicht abstoßend.«
Auch nach der Reichsgründung, als Berlin wie ein Phönix aus der Asche zur strahlenden Metropole des Kaiserreiches mit fast einer Million Menschen emporstieg, stand hinter glänzender Fassade noch immer das stinkende »Örtchen hinten aufm Hof«.
Die düsteren Hinterhöfe der schnell hochgeklotzten Mietskasernen, in denen nichts grünte und blühte außer einigen liebevoll gehegten und gepflegten Blumentöpfen in den Fenstern sich nach Natur und Sonne sehnender Großstadtmenschen, waren »Vater« Zilles zum Heulen komisches »Milljöh«.
Zille war bekannt für sein goldenes Herz mit kesser Schnauze, weniger bekannt waren bittere Zille-Wahrheiten ohne humorigen Zuckerguß:
»Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso gut töten wie mit einer Axt!«
1894 - Wilhelm Bölsche - Das Volk aber lebte im Elend und Dreck
Natürlich gab's auch prächtige Schlösser, Herrschaftshäuser, Parks und Alleen, das Volk aber lebte im Elend und Dreck. Über eine der vielen Elendsstraßen schrieb Wilhelm Bölsche 1894:
»Da ist die Parochialstraße, eigentlich keine Straße, sondern ein winziges Gäßchen - Schustergäßchen sollte es heißen. In jedem Haus oder besser jedem Kellerloch ein Stiefellädchen, ein ganzes Gewerbe in alter Weise auf einem Fleck vereinigt; entsetzliche Kellerstuben, Meister, Gesellen, Kinder, Hunde, Blumenstöcke und dazu ungezählte stark duftende Stiefel in eine winzige Höhle zusammengepfercht, rohe Lederstücke auf den Betten, jeder alte Meister fieberhaft arbeitend und dennoch aufgefressen von dem Moloch, der dort hinten im Ausschnitt des Gäßchens seine Pferdebahnglieder wälzt.«
In den Fabriken schufteten die Arbeiter für einen Hungerlohn zwölf, vierzehn Stunden täglich. Auch Frauen und Kinder, denn was einer allein in den vielen Arbeitsstunden verdienen konnte, reichte für keinen zum Überleben. Menschen wurden gehandelt wie Kartoffeln oder Pferde.
Alles, das Profit versprach, wurde zur Ware, die menschliche Arbeitskraft ebenso wie die Musik.
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Der Schlager, ein Panorama der leichten Musik
»Obwohl der Notenverkauf oder auch das öffentliche Konzert in Deutschland bereits im 18. Jahrhundert (in einigen Ausnahmen bereits schon davor) nachweisbar sind, brachte es doch erst die stürmische Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert mit sich, daß der Musikkauf und -verkauf eine allgemeine gesellschaftliche Erscheinung wurde. Erst als Ware wurde Musik für die kapitalistischen Musikunternehmer interessant«
(Peter Czerny/Heinz Hofmann in >Der Schlager, ein Panorama der leichten Musik<, Berlin 1968).
Endgültig vorbei die Zeit, da Musik alles andere - Vergnügen, Unterhaltung, Spaß, Erbauung, Bildung, Kunst - nur kein Geschäft war.
Vorbei auch die Zeit, da die Tanzmusik von Musikanten aus dem Volke erdacht, im Volke zwanglos verändert wurde, bis sie allmählich bleibende Gestalt annahm. Seit Josef Lanner wurde die Tanzmusik von Profis geschrieben und in fertiger Form feilgeboten. Und verkauft.
Musik wurde jetzt zu einem kolossalen Geschäft, U-Musik mit der Zeit das viel größere als E-Musik. Mit den Profis der Tanzmusik begann auch die Spezialisierung. Bestimmte Komponisten schrieben nur noch leichte, sogenannte Unterhaltungs-, kurz U-Musik; andere blieben bei Opern, Sinfonien, Klavierkonzerten und Streichquartetten, der sogenannten ernsten, kurz E-Musik.
U-Musik, die billige Konfektionsware fürs Volk
Die U-Musik wurde im Laufe der Zeit immer mehr zur billigen Konfektionsware fürs Volk, die E-Musik immer mehr zum Reservat für eine kleine Oberschicht.
Dabei hatte es nach der Französischen Revolution Zeiten gegeben, in denen Opernarien wie Volkslieder geträllert wurden und es ganz so aussah, als würde das Volk sich alles einverleiben, das von seinen großen Meistern in Musik, Dichtung, Malerei an Kunst geschaffen worden war in Jahrhunderten.
Doch mit dem Kapitalismus machten profitsüchtige Unternehmer das Rennen; sie interessierte nicht Kunst, sondern Kasse. Wenn auch mit Kunst Kasse zu machen war, gekauft. Wenn nicht, dann handelten sie lieber mit Mist als mit Kunst.
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Die Jagd nach dem "Profit"
Die Jagd nach dem "Profit" beeinflußte auch schon Arbeit und Leben der damals bedeutendsten Komponisten der Tanz- und Unterhaltungsmusik. So ließ Josef Lanner beispielsweise die Klavierausgaben seiner Stücke, gelegentlich auch Arrangements, immer häufiger von anderen anfertigen.
- Anmerkung : Hier beginnt Frau Sperrs ideologische Überzeichnung des Begriffs "Profit" anstelle von zum Beispiel Ertrag oder Einkommen oder Ergebnis.
Diese Bearbeitungen waren zu zeitraubend für einen, der Erfolg hatte mit seiner Musik, weshalb er möglichst viel komponieren mußte, um möglichst viel verkaufen zu können. Josef Lanner nutzte die gewonnene Zeit nicht nur zum Komponieren, sondern auch zum Dirigieren.
In Wien hatte er zeitweilig mehrere Kapellen, die er abwechselnd besuchte, um für einige seiner Titel selbst den Taktstock zu heben. Diese ziemlich modern anmutende Arbeitsteilung hatte nur einen Zweck: die bessere kommerzielle Auswertung seiner Musik.
Johann Strauß (Vater, 1804-1849), einst Bratschenspieler und Hilfsdirigent bei Josef Lanner, war nicht nur der gefeiertste Wiener Komponist seiner Zeit, sondern auch ein äußerst robuster Geschäftsmann.
Es wird berichtet, daß er seine Kapellen streng beaufsichtigte. Die Musiker waren seine Angestellten; er war der Boss. Mit seinem Tanzorchester, das er später seinen Brüdern Josef und Eduard überließ, unternahm Strauß lukrative Konzertreisen, u.a. nach Paris und London.
Auch bei Hofe machte Vater Strauß Karriere: Ab 1835 komponierte er die Musik für die rauschenden Hofbälle und blieb Hofballmusikdirektor bis an sein Lebensende.
Johann Strauss, der Sohn von Vater Johann Strauss
Den erfolgreichen Vater übertrumpfte in jeder Hinsicht sein Sohn (1825-1899), der gleichfalls Johann hieß. Nicht nur als Tanzmusik-, auch als Operettenkomponist war er genial.
Auf dem Höhepunkt seiner Karriere beschäftigte Johann Strauß bis zu zweihundert Musiker. Täglich fuhr der schnauzbärtige Liebling des Wiener Publikums mit dem Fiaker von Kapelle zu Kapelle, um überall kurz zu dirigieren und sich seinem begeisterten Publikum zu zeigen.
Diese Kapellen waren nicht hauptsächlich dazu da, um anderen Musikern Arbeit und Lohn zu geben, sondern sie sollten die Strauß-Melodien beim Publikum lebendig und damit verkäuflich erhalten.
Vater Strauß war zunächst strikt dagegen, daß sein Sohn ihm nacheifern wollte. Behauptungen, wonach er die Konkurrenz dieses hochbegabten Sohnes fürchtete, zeigen die negativen Auswirkungen des Erfolg- und Profitdenkens bis hinein in den privaten Bereich familiärer Beziehungen.
Im Gegensatz zum Vater, der ziemlich ausschließlich für die »feine Welt« komponierte, zeigte der Sohn durchaus Sympathie für rebellische bürgerliche Kreise mit demokratischen Zielen und Idealen.
Strauß jun. scheute sich auch nicht, diese Sympathie musikalisch auszudrücken. Er komponierte >Freiheits-Lieder-Walzer<, >Burschenschafts-Lieder-Walzer<, auch die Polka >Ligurianer-Seufzer<.
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Als die Österreichisch-habsburgischen in Genua regierten
Die italienische Provinz Ligurien, Hauptstadt Genua, litt damals unter österreichisch-habsburgischer Herrschaft. Der Titel >Ligurianer-Seufzer< deutet auf Strauß' Anteilnahme am Schicksal des geknechteten, nach nationaler Freiheit strebenden italienischen Volkes hin.
Seine größten Erfolge aber hatte der »Walzer-König« mit Kompositionen, in denen er jubelnd die Schönheiten seiner Zeit und ihre höfische Prachtentfaltung erklingen ließ: >An der schönen blauen Donau<, >Kaiserwalzer< .....
Nach der blutig niedergeschlagenen Revolution von 1848/49 vergaßen Johann Strauß und viele andere wohlhabende Bürger ihre ehemaligen Sympathien für die Freiheits- und Gleichberechtigungsansprüche der besitzlosen Massen freilich total. Erleichtert wurde das Vergessen durch manche Privilegien und immer größeren Profit für das reiche Bürgertum.
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Die 1860er Jahre brachten eine andere Revolution
Die 1860er Jahre brachten eine schnelle Entwicklung vieler neuer Produktivkräfte: eine sich rasant entwickelnde Eisen- und Maschinenindustrie, neue Methoden der Energiegewinnung (»Dampf durch Dampfkraft!«), bessere, schnellere, leistungsfähigere Verkehrsmittel.
Aktiengesellschaften und Großbanken entstanden, der Welthandel wurde erweitert, der Kapitalmarkt wuchs und gedieh. Fabriken schossen wie Pilze bei feuchtem Herbstwetter aus dem Boden; ehemalige industrielle Kleinbetriebe expandierten zu immer mächtigeren Großunternehmen :
1851 beschäftigte Krupp 704, zwanzig Jahre später 16.000 Arbeiter. Überall wurde gebaut und spekuliert. Die Zeitungen gossen fleißig Öl in die mächtig aufflammende Industriebegeisterung :
»Die Zeit ist hin, wo Berta spann. Heute spinnen tausend Maschinen mit Millionen Spindeln und Rädern. Heute trachten Staat und Bürger allüberall danach, von früh bis spät, wie man arbeiten, hervorbringen, schaffen und erzeugen könne.«
Zur Bedienung der Maschinen mußte Berta jetzt aber erst richtig ran! Zwar betrug 1861 die Weltindustrieproduktion nur 14 Prozent gegenüber der von 1913, und Deutschland lag in der Reihenfolge der um Profit, Macht und Einfluß streitenden Industrienationen erst an vierter Stelle nach England, Frankreich, USA.
Doch schon 1895 hat Deutschland England und Frankreich überholt und liegt nach den auf Platz Nummer eins vorgerückten USA auf Platz Nummer zwei.
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Als Deutschland ab 1850 im Kommen lag
Deutschland war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz groß im Kommen, wobei Millionen auf der Strecke blieben, weil ihre Not die Mächtigen nicht kümmerte.
»Hauptsache die Kasse stimmt«, hieß die Losung jener Bürger, die keine wirkliche Veränderung der bestehenden Verhältnisse wollten, sondern nur teilhaben an der Macht.
Die Kinderliteratur der Zeit ist sehr aufschlußreich: Ob in >Albert der Wildfang< (1824) oder im >Struwwelpeter< (1847), überall werden den Kindern des Besitzbürgertums Gehorsam, Demut, Anpassung und das Bravsein eingebleut.
Den harmlosesten Kinderstreichen folgen die härtesten Bestrafungen, dem geringsten Ungehorsam die fürchterlichsten Katastrophen wie Krankheit, Elend, totale Verarmung der ganzen Familie oder starke Verminderung ihres Besitzes, was gleichbedeutend ist mit Verlust an Macht und Ansehen:
»Schon stand das ganze Zimmer in Flammen, die Kleider der Unglücklichen brannten, und die Haare waren ihr von dem Kopf weggesengt. Ihr Leben wurde zwar gerettet, drei Wochen aber schwebte es in Gefahr, und sie mußte mit den entsetzlichsten Schmerzen ihre Unbesonnenheit büßen. Die ganz obere Hälfte des Hauses ging im Feuer auf, so daß Ernestines Eltern einen bedeutenden Schaden erlitten« (>Ernestine< von Felix Sternau).
Damals ganz normal - schwere Strafen für Ungehorsam
Wie den Kleinen, so drohten auch den Großen schwere Strafen für Ungehorsam. Wer sich beispielsweise aktiv für eine Veränderung der bestehenden Unrechtsverhältnisse eingesetzt, vielleicht sogar mit der Waffe in der Hand dafür gekämpft hatte, befand sich nach der gescheiterten Revolution auf der Flucht vor den brutalen Rachegelüsten der siegreichen Feudalmächte, hauptsächlich der Militärmacht Preußen.
Nach diktatorischer Herrschermanie hatte Friedrich Wilhelm IV. sein Heer zur Niederwerfung der Volksaufstände in die deutschen Lande ausgeschickt:
»Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!« Auf der Flucht war damals auch Richard Wagner, der sich am Maiaufstand in Dresden beteiligt hatte, in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden und ins Ausland entkommen war.
Der Historiker Theodor Mommsen, erst seit 1848 Professor in Leipzig, wegen seiner Beteiligung an den revolutionären »Umtrieben« gemaßregelt und amtsenthoben, folgte einem Ruf nach Zürich.
Der Mediziner Rudolf Virchow, der am Barrikadenkampf vom März 1848 in Berlin teilgenommen hatte, verlor seine Anstellung bei der Charite und verließ Preußen. Der Dichter Ferdinand Freiligrath, im Mai 1848 hoffnungsfreudig aus englischem Exil nach Deutschland zurückgekehrt, mußte zum zweitenmal vor politischer Verfolgung nach England fliehen.
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Als Deutschland nach 1849 ausblutete
Mit der rebellischen intellektuellen Führungsschicht gingen auch all die vielen wackeren kleinen Leute, vor allem Bauern und Handwerker, die sich mit Fronarbeit und Unterdrückung nicht abfinden und auf gar keinen Fall wieder einreihen wollten in die bestehende Untertanen-Ordnung.
»Allein zwischen 1849 und 1854 emigrierten rund 850.000 Deutsche nach USA, weitere 300.000 in andere überseeische Länder« (Bernt Engelmann in >Trotz alledem, Deutsche Radikale von 1777-1977<, München 1977).
Die emigrierten Deutschen, ebenso widerspenstige wie tapfere und tatkräftige Menschen, trugen einen großen Teil zum unaufhaltsamen Aufstieg der USA bei. Viele von ihnen, allen voran die Anführer des badisch-pfälzischen Aufstandes, in Deutschland gerade noch den Hinrichtungskommandos entkommen, kämpften im amerikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Nordstaaten gegen Unterdrückung und Sklaverei, weiter für Menschenrecht und Gleichberechtigung.
Einer von ihnen, im badisch-pfälzischen Aufstand als unbekannter Freiwilliger dabei, stieg in Amerika so hoch, daß seine alte Heimat, in der er einst hingerichtet werden sollte, später dann sehr stolz war auf den berühmten Sohn: Carl Schurz.
Im amerikanischen Exil wurde er Senator, enger Berater des Präsidenten Abraham Lincoln, General der Nordstaaten-Armee, schließlich Innenminister der Vereinigten Staaten.
Den politischen Flüchtlingen folgten noch größere Menschenströme aus wirtschaftlicher Not: bis zur Jahrhundertwende wanderten mehrere Millionen Deutsche nach Amerika aus. Diese gewaltigen Auswanderungswellen hatten auch musikalische Folgen: Reste von Polka und Rheinländer finden sich im amerikanischen Foxtrott und Dixieland wieder.
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Der Umschwung zur "Vergnügungsindustrie"
Noch aber tanzte Deutschland seine eigenen Tänze, noch lebte auch die Volksmusik. Doch immer mehr und immer stärker fiel sie der zunehmenden
Kommerzialisierung der Tanzmusik und einer schnell anwachsenden Vergnügungsindustrie zum Opfer.
Noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein tanzte man in den Wirtshäusern der kleinen Leute neben Walzer oder Galopp auch seine alten Ländler, Hopser, Rutscher und nach Weisen fröhlicher Tanzlieder wie >Mädel ruck, ruck, ruck an meine Seite<, oder >Mädel wasch dich, kämm dich<.
Nach 1848, als sich das wohlhabende Bürgertum mit den alten Feudal- wie neuen Kapitalmächten wegen gemeinsamer Profitinteressen im besten Einvernehmen zusammenfand und sich immer stärker gegen den Gleichheitsanspruch des besitzlosen Volkes wandte, ging der Einfluß der Volks- auf die kommerzielle Tanzmusik mehr und mehr zurück, bis er gegen Ende des Jahrhunderts allmählich ganz schwand.
Wurde der Volksmusik auch schnöde der Garaus gemacht, Musik fürs Volk gab es trotzdem genug. Mehr als jemals zuvor. Vielleicht war sie nicht immer besonders schön, dafür aber war sie immer besonders schön laut.
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Der Marsch bzw. die Marschmusik des Krieges
Was für den Fürsten Metternich der Walzer, das war für den Fürsten Bismarck und seinen Kaiser Wilhelm der Marsch.
Den Marsch kennen alle Völker der Erde, und er ist alt wie die Menschheitssünde Krieg, sein bemerkenswerter Aufstieg im Preußen-Deutschland auch ins zivile gesellschaftliche Leben hatte freilich besondere Gründe.
Nach dem Deutschen Krieg von 1866, den Preußen gewann, Österreich verlor, hatte sich das wilhelminische Königreich unter Bismarcks »eiserner Faust« endgültig als eine der stärksten europäischen Militärmächte etabliert.
Als kurz danach auch der Deutsch-Französische Krieg gewonnen wurde, an dessen Ende sich Preußens König Wilhelm, um Frankreichs Demütigung perfekt zu machen, am 18.1.1871 im Schloß von Versailles zum Deutschen Kaiser ausriefen ließ, stand mit Preußen dann das ganze Deutsche Reich unter dem Diktat des Militärs.
Preußische Soldaten sorgten keineswegs nur in deutschen Landen, sondern auch im besiegten Frankreich für »Ruhe und Ordnung«. Der Commune-Versuch radikaler Volksmassen in Paris, die schon im September 1870 die Republik ausgerufen und u.a. die Schulpflicht, die Gleichberechtigung der Frau sowie Arbeiterschutzgesetze eingeführt hatten, wurde mit Hilfe preußisch-deutschen Militärs ebenso erfolgreich wie blutig niedergeschlagen.
Nicht aufhalten aber ließ sich der Siegeszug eines proletarischen Kampfliedes, das in jenen Tagen entstanden war und von Paris aus die »Proletarier aller Länder« zum Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung aufrief: >Wacht auf, Verdammte dieser Erde ...<
Die >Internationale< wurde zum populärsten Kampflied der entstehenden weltweiten Arbeiterbewegung, auch und gerade in Deutschland.
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Berlin, die Stadt der Kasernen und Exerzierplätze
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- Anmerkung : Hier wird es besonders ideologisch tendeziell und rethorisch überzogen. Frau Sperr zeigt ihre etwas einseitige Denkweise ganz deutlich, aus meiner Sicht etwas zu ideologisch überzogen. Es riecht nach Klassenkampf Thesen und deren Parolen.
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- Ergänzung : Hier könnte man in das Buch des Amerikaners H. R. Knickerbocker "German crisis" abzweigen. Er hat diesen Berliner Ist-Zustand auch recht deftig aber wertneutral beschrieben.
Hier schien die neue Hauptstadt Berlin vor allem aus Kasernen, Exerzierplätzen rund um die Stadt und (von wegen dem Zuckerbrot, das nach altem Herrscherbrauch nun mal zur Peitsche gehört!) Theatern zu bestehen.
Kurz vor 1900 soll man in der Stadt beinahe mehr Theater als Kirchen gezählt haben. Oft standen Kaserne und Theater dicht beieinander. Je eine Kaserne neben dem Victoria-, dem Belle-Alliance-, dem Deutschen und dem Neuen Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater.
Eine Kaserne selbst auf Berlins Pracht- und Renommier-Allee "Unter den Linden", schräg gegenüber der Lindenoper. Die vielen Kasernen mitten in der Stadt demonstrierten zusätzlich, was sowieso nicht zu übersehen war: im bismarckschen Kaiser Wilhelm Reich gab das Militär den Ton an, wobei die hohen und höchsten Positionen gewöhnlich den Herren mit »von« oder »von und zu« vorm Namen vorbehalten blieben.
Der Ton aber macht bekanntlich die Musike, in diesem Fall den Marsch. Da Frankreich den Krieg verloren hatte, mußte es ihn auch bezahlen, u. a. mit fünf Milliarden Goldfranken. So brach nach der Reichsgründung durch Bismarcks »Revolution von oben« ein regelrechter Gründerrausch aus.
»Gegründet« wurde in jenen ersten deutschen Wirtschaftswunderjahren auf Teufel komm raus und auf Frankreichs Kosten: industrielle Großbetriebe, Banken, Versicherungen, Kredit-, Aktien-, Baugesellschaften, Werften, Zeitungen, Theater, Buch- und Musikverlage, Hotels, Warenhäuser und Geschäfte.
In Berlin kletterten die Grundstückspreise in für gewöhnliche Sterbliche unerreichbare Höhen. Viele fürstliche Hoheiten, reich geworden in den Zeiten ihrer Souveränität auf Kosten des rechtlosen Volkes, legten ihr Geld jetzt nicht mehr nur in Land- und Waldbesitz oder Juwelen an, sondern beteiligten sich rege an kapitalistischen Industrie- und Handelsunternehmen.
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Zitat aus >Wir Untertanen<, München 1974
Dazu schreibt Bernt Engelmann in seiner leidenschaftlichen Aufarbeitung deutscher Geschichte aus der Sicht der neunzig Prozent des Volkes, die in unseren Geschichtsbüchern sonst nicht vorkommen (>Wir Untertanen<, München 1974):
»So wurden zum Beispiel die Fürsten zu Oettingen-Wallerstein, von Thurn und Taxis, zu Castell und zu Löwenstein-Wertheim Großaktionäre der Bayerischen Vereinsbank (und sie sind es, nebenbei bemerkt, bis heute geblieben); oberschlesische Magnaten wie die Fürsten von Henckel-Donnersmarck oder die Grafen Schoffgotsch gründeten eigene Industriekonzerne.«
Gegründet wurde damals auch der erste deutsche Fußballverein in Hannover, die erste deutsche Markthalle in Frankfurt, die Deutsche Seewarte in Hamburg. Gegründet wurde in den Gründerjahren aber vor allem eine gewaltige Berliner Unterhaltungs- und Vergnügungsindustrie.
Und jetzt gab es technologische Entdeckungen ohne Ende
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts überpurzelten sich die Entdeckungen und Erfindungen geradezu. Kaum gab's das Fahrrad mit Freilauf und Rücktritt, war auch schon das Kraftrad mit Benzinmotor und gleich danach das Auto da.
Kaum hatten sich die Menschen an das neue Tempo durch Dampfkraft gewöhnt, machte Elektrizität alles noch schneller und selbst das bisher für unmöglich Gehaltene möglich: die Nacht hell wie den Tag.
Schon ab 1879 blitzte in der Leipziger Straße das erste elektrische Bogenlicht, und von da an wurde das »feine Berlin« hell und modern, sozusagen zum strahlendsten Glitzerstern Europas, ja der Welt.
Vom vornehmsten Puff bis zur verworfensten Spelunke, vom teuersten Ballhaus bis zur schäbigsten Kneipe - in Berlin gab es nichts, was es nicht gab.
Manchmal gab's selbst das feinste Etablissement gleich am Tage nach der Eröffnung nicht mehr, weil sein Gründer bereits pleite, das kostbare Inventar samt Sektkübeln und Südsee-Palmen längst verpfändet war.
Eine Trennung zwischen Puff und mondänem Tanzlokal scheint damals nicht bestanden zu haben, denn über das Orpheum, das weltmännischte Ballhaus jener Jahre, verriet ein Zeitgenosse in seinen >Jugenderinnerungen<:
»Wenn ich hineinkam, lagen noch betrunkene Männer und Weiber in den Nischen und Logen und auf den Plüschsofas: die Glücklichen der Gründerzeit, die die Ernte der Kriegserfolge von 1870 einheimsten.«
Für die weniger Glücklichen hatte das vielseitige Berlin aber auch allerhand zu bieten: unzählige Kneipen und Wirtschaften in allen Größen und Preislagen, darunter auch Angebote für »Keilerei mit Tanz«.
Krachende Tanz- oder stillere Gartenlokale fanden sich ebenso mitten in der Stadt wie in den vielen Vororten, darunter Riesensäle von »Gründer«-Ausmaßen wie beispielsweise die »Neue Welt« in der Hasenheide.
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Und überall fröhlich schmetternde Militärkapellen
Und »allüberall« sorgten fröhlich schmetternde Militärkapellen und große Orchester für Musik und Stimmung. Marschmusik dröhnte auch auf den Straßen Berlins, wenn Wilhelms Soldaten stramm durchmarschierten.
Wie heute etwa das Glockenspiel im Münchner Rathausturm, so gehörte damals der Auf- und Abzug der Wachparade zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten in der Stadt. Viele Menschen liefen dann neben der Militärkapelle her, besonders gern Kinder und natürlich immer auch wütend bellende Hunde.
Über die Liebe der vielen kleinen Näherinnen zu den vielen feschen Leutnants und Gardegrenadieren ist viel zu viel geschrieben worden in viel zu vielen Schundromanen der Zeit .....
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Berlins Laubenkolonien - Vergnügen der armen Leute
Hochkonjunktur hatten in den wilden, aus heutiger Sicht wohl doch noch recht behäbigen Gründerjahren aber auch Berlins Laubenkolonien. Hier tanzten die »Laubenpieper« auf ihren vielen Gartenfesten unter Lichtern und Lampions zur Drehorgelmusik. Hier sangen sie auch die alten Weisen ihrer Dienstmädchen-, Tanz-, Trink- und Bänkellieder, hier lebten Gassenhauer und Volksmusik noch lange.
Hier klammerten sich die Menschen vom Lande, den düsteren Mietskasernen und Hinterhöfen der Großstadt ausgeliefert, an ihr bißchen Natur in steinerner Umwelt.
Kein Wunder, daß sich jetzt viele ursprünglich eher lustige Melodien in sentimental- gefühlvolle verwandelten. >Der treue Husar<, bereits um 1700 in Deutschland bekannt, ebenso wie das damals äußerst populäre >Waldeslust<, ein Volkslied aus Sachsen und nicht nur in Sachsen auch heute noch gut bekannt.
Naiv rührselige Weisen aus bäuerlicher Vergangenheit wurden von kühl kalkulierenden Profis, die schnell erkannten, daß mit den sehnsüchtigen Erinnerungen entwurzelter Menschen gute Geschäfte zu machen waren, in sentimentalen Kitsch verfälscht.
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Komponiert wurden draufgängerische Tanzweisen und Schnulzen
Für die lebhafte Berliner Vergnügungsindustrie wurden hauptsächlich aber forsche, ja draufgängerische Tanzweisen gebraucht. Schließlich kamen die Leute, um sich zu amüsieren und nicht, um zu weinen.
Einige gefühlvolle Schnulzen fürs Herz konnten nicht schaden, sonst aber hieß es froh und munter sein, lebte man doch in großen, in kaiserlichen Zeiten. In Berlin war damals alles kolossal: riesige Bauten, fünfzehn Meter hohe Portale, eine monumental überladene Architektur.
Monumental von außen und innen waren auch die Theater. Über das Haus "Unter den Linden" schreibt Otto Schneidereit in seinem Buch über die Berliner Operette >Berlin - wie es weint und lacht<:
»Es hatte eine Million und dreihunderttausend Mark gekostet, und das sah man. Der Zuschauerraum war ganz in Weiß, Rot und Gold gehalten, und die Parkettlogen und Ränge waren nicht abgeschlossen, sondern sie öffneten sich ohne trennende Mauern gegen die mahagonigetäfelten Umgänge mit ihren Polstersesseln und Tischen, wo man ausgezeichnet speisen oder Champagner trinken konnte. Geraucht werden durfte überall.«
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Die preußische Gewerbefreiheit von 1896
Noch vor Kaiserkrönung und Reichsgründung war den Preußen 1869 die Gewerbefreiheit beschert worden. Danach konnte jeder Bürger, wenn er Kapital hatte, Geschäfte machen, womit er wollte. Auch mit Theatern.
Kurz nach diesem Staatsgeschenk an kapitalstarke Bürger hatte Berlin, noch Jahrzehnte zuvor eine ziemlich theaterlose Stadt, dann Theater wie die Meeresküsten Sand.
Sie hießen Grüne Neune, Walhalla, Apollo, Bellevue, Alhambra, Metropol, Amerika oder, wie schon erwähnt, Belle-Alliance und Victoria.
In ihnen aber ging's häufig zu wie in einem überfüllten Affenkäfig bei der Fütterung nach langer Fastenzeit. Außer großer Kunst boten sie so ziemlich alles: Schwanke, Sing- und Puppenspiele, Possen, Operetten aus Paris und Wien, Variete-Veranstaltungen mit Artisten, Tieren, Feuerschluckern, Komikern und natürlich: Sensationen, Sensationen, Sensationen!
Das Variete existierte in verschiedenen Ausführungen: vom Wintergarten für die feine Gesellschaft bis zum Tingeltangel für biedere Handwerker- und Arbeiterfamilien, die, statt im Freien ihren Muckefuck zu kochen, sich lieber von frechen Komikern und kessen Chansonetten unterhalten lassen wollten. Natürlich war auch immer ein Pianist dabei; keine Darbietung ohne Musik.
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Die »ewigen Wahrheiten« des Lebens
Großer Beliebtheit erfreute sich damals das aus der Berliner Posse hervorgegangene Couplet, ein lustiger musikalischer Vortrag über die »ewigen Wahrheiten« des Lebens«, an dessen Ende gern »die Moral von der Geschicht« verkündet wurde.
Von welcher Art diese Moral im militärhörigen Kaiser Wilhelm Reich war, ist leicht vorstellbar, weshalb ein Beispiel genügen soll:
»Ruft mal zu Kampf und Streit/ der Kaiser seine Jungen/ sind alle wir bereit/ und kommen angesprungen.«
Dazu nahm der Vortragende dann gern eine stramme Haltung ein, denn solche Texte waren nicht etwa komisch, sondern ausgesprochen ernst gemeint. In Sachen Kaiser und Militär nämlich hörte jeder Spaß auf.
Frank Wedekind war nicht der einzige, der in jenen großen, kaiserlichen Zeiten wegen »Majestätsbeleidigung« in Festungshaft geschickt wurde. Der Spötter Wedekind saß wegen seines frechen Gedichtes über die pompöse Kaiser-Reise nach Palästina ein, andere saßen wegen ihrer frechen Reden oder Lieder.
Nicht nur die vaterländischen Couplets, auch gemütvoll-lustige Vorträge übers deutsche Spießerleben, selbst Liebes-Duette wurden gern mit Marschmusikbegleitung vorgetragen. Die militärische Zackigkeit, nicht nur in Kasernen, sondern auch bei Preußens Beamten und in seinen Schulen üblich, eroberte selbst Singspielhallen und das Tingeltangel.
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Nach 1871 >Rixdorfer< und >Holzauction<
Bei so viel Musikbedarf mußte viel produziert werden. Und die beginnende Massenproduktion von Tanz- und Unterhaltungsmusik nach 1871 sorgte denn auch ganz entscheidend dafür, daß es mit dem fröhlichen Einfluß der Volksmusik immer schneller bergab ging.
Nur selten wirkten musikalische Traditionen, verbunden mit der neuen Umwelt werdender Großstädte, weiter. Die wenigen Ausnahmen aber führten zu langlebigen, schier unverwüstlichen Melodien wie dem >Rixdorfer<, >Im Grunewald ist Holzauction<, >Komm, Karlineken, komm .......<
Über den unaufhaltsamen Aufstieg der >Holzauction< in sämtliche Küchen und Hinterhöfe ist in der Täglichen Rundschau vom 16. Januar 1892 zu lesen:
»Noch vor Tagen war dieser Singsang in den breitesten Kreisen unbekannt, und heute ertönt er von der Bühne des Adolph-Ernst-Theaters, aus Küchenfenstern und Schusterkellern, aus Schneiderstuben und von Baugerüsten. Und aus breitesten Volksschichten ist dieser Gassenhauer bereits in Familien und Gesellschaften gelangt.«
In den Jahren von >Rixdorfer< und >Holzauction< bürgerte sich der aus Wien kommende Schlagerbegriff auch in Deutschland allmählich ein, bis er um die Jahrhundertwende dann in Berlin endgültig zu Hause war.
Und wie! Kaum nämlich hatte der im Jahre 1881 zum erstenmal in einer Kunstkritik der Wiener Nationalzeitung (»zündende Melodie - Schlager nennt sie der Wiener«) offiziell in Erscheinung tretende Schlager Berlin erreicht, da wurde auch gleich alles zum Schlager.
Schon kurz nach der Jahrhundertwende begannen die Musikverlage ebenso frech wie profitgierig mit der Unsitte, auf den Rückseiten ihrer Notenausgaben alle Melodien der leichten Musik als Schlager anzupreisen. Ganz gleich, ob es tatsächliche Hits waren oder aber tatsächliche Reinfälle. Das von Alexander Girardi jubelnd begrüßte »Einschlagen« wurde erst gar nicht mehr abgewartet.
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Der Gassenhauer - auch eine Sache des Volkes
Auf der Suche nach gewinnbringenden Kassenschlagern griff man, bis das Bürgertum mit seinen »feineren« Gesängen aus mondänen Revuen und neckischen Operetten die frechen Spottlieder aus dem »niederen« Volke langsam, aber sicher vom Unterhaltungsmarkt verdrängte, auch auf Gassenhauer zurück.
Das waren natürlich nicht mehr die aufsässigen Lieder von einst, sondern entschärfte Nachahmungen einer im Volke äußerst beliebten musikalischen Ausdrucksweise. Gassenhauer wurden bereits im 16. Jahrhundert gesungen.
Ursprünglich war mit diesem Begriff eine Person gemeint, die sich auf den Gassen und Straßen der Städte herumtrieb. Oft musizierend und singend, etwa den Hippies und Gammlern mit Gitarre von heute (1978) vergleichbar. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff dann auch für Lieder und Tanzweisen solcher Straßensänger verwendet.
Wie Zeitungs- und Bänkelsänger, Spielleute, Gaukler, Quacksalber oder Guckkastenmänner gehörten die Straßensänger zu den Leuten des fahrenden Gewerbes.
Sie alle standen in der sozialen Rangordnung ganz unten, zählten zu den »Unehrlichen Leuten«, mit denen weder die höfische noch die bürgerliche Gesellschaft etwas zu tun haben wollte. Für besonders hochanständige Bürger galten sie ebensoviel wie Landstreicher und Bettler, und auf die hetzten sie am liebsten die Polizei oder die Hunde.
So blieb der Gassenhauer eine Sache des Volkes.
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Die neuen "proletarischen" Schichten in den Städten
Im 19. Jahrhundert war der Gassenhauer für die proletarischen Schichten in den emporschießenden Großstädten neben dem politischen Kampflied die einzige musikalische Möglichkeit, das für sie alles andere als glänzende Stadtleben aus ihrer Sicht kritisch-aggressiv zu kommentieren.
Mit zunehmender Deklassierung durch das Bürgertum, das mit dem kommerziellen Unterhaltungsmarkt auch immer stärker den Geschmack der Zeit bestimmte, wurde der Gassenhauer allmählich fallengelassen, schließlich nur noch von gesellschaftlichen Randgruppen als mehr oder weniger obszönes Rinnstein- und Gossenlied gesungen.
Auf der Suche nach Kassenschlagern für die lärmende Berliner Vergnügungsindustrie aber griff man nur zu gern auf den Gassenhauer zurück. Nicht auf den kritisch-aggressiven, sondern auf seine negative Variante.
Da wurde dann so richtig auf die Pauke gehaun, möglichst laut und möglichst frivol. Dickbäuchige Salonkomiker fütterten die gefräßige Lebewelt unermüdlich mit unanständigen Liedern und Zoten, unterstützt von drallen Chansonetten, die selbst bei größter Anstrengung nie ordinär genug sein konnten für die lüsterne Schickeria.
Nichts von diesen unzähligen, unseligen Machwerken hat allerdings die Gründerzeit lange überlebt. Zu großer, teilweise sogar sprichwörtlicher Bedeutung stiegen dagegen alle jene Gassenhauer auf, in denen auf unverfälschte, freche oder auch derbe Weise das Volksleben in der Stadt zum Ausdruck kommt.
Zu den berühmtesten zählen >Du bist verrückt, mein Kind< nach dem Titelmarsch der Operette >Fatinitza< Franz von Suppes; >Denkste denn, du Berliner Pflanze< nach dem vielgespielten Petersburger Marsch< oder das unverschämte Glanzstück >Mutta, der Mann mit'm Koks is da< nach der Melodie des Walzers >Er soll dein Herr sein< aus der Operette >Gasparone< von Karl Millöcker.
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Zum Gassenhauer gehörte das "Parodieverfahren"
Von altersher gehörte zum Gassenhauer das Parodieverfahren: neue Texte wurden zu populären Melodien gesungen. Seltener geschah es, daß eine fremde Musik einem vorhandenen Text angepaßt wurde.
Schon diese drei Beispiele - zwei Märsche, ein Walzer - zeigen, wie sehr der Marsch im Kommen war. Und am Ende des Jahrhunderts, da dem ersten Deutschen Kaiser Wilhelm I. der letzte Deutsche Kaiser Wilhelm II nachgefolgt war, wurden Walzer und Polka durch die Märsche Paul Linckes immer stärker ins zweite Glied zurückgedrängt.
Mit Paul Lincke war der Marsch endgültig »in«, denn er, der »Gründer« der Berliner Operette, lieferte zu Anfang unseres, des 20. Jahrhunderts, die populärsten Schlager der Zeit.
Eigentlich fängt mit ihm die deutsche Schlagergeschichte überhaupt erst an.
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